Roswitha H. Wegmann-Grüter
Belletristik / Fantasy / Romane
Reihe: edition fischer
R. G. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
Der noble Sarg
Roman
2003. 440 Seiten
Paperback SFr 40.50 (€ 24.00)
ISBN 3-8301-0577-0. Warengruppe 1111
Als die sechzehnjährige Nelly von ihrem Cousin Robert aufgenommen wird,
scheint ihr Leben endlichin geordnete Bahnen zu kommen.
Der frühe Tod der Mutter, die Trinksucht und der unberechenbare
Jähzorn des Vaters haben das Mädchen traumatisiert und schweigsam gemacht.
Das sexuell freizügige Lebenvon Robert trägt nicht gerade dazu bei,
ihre Abneigung Männern gegenüber abzulegen.
Auch die Verlobung mit Bea legt Robert keine Zügel an.
im Gegenteil, am Polterabend umgarnt er die junge Künstlerin Anita.
Das Fest endet jedoch in einem Fiasko.
Leseprobe:
Ehrfürchtig beobachtete sie sein Imponiergehabe, flüsterte hingerissen: »Wie schön du bist, Rocky.«
Als er ihre Stimme vernahm, kam er nahe ans Gitter stolziert, legte den Kopf schräg und blinzelte sie an. Am Boden wirkte er ein wenig schwerfällig, trotzdem bewegte er sich nicht ohne eine gewisse Eleganz zu bewahren. Sie wich nicht zurück, als sein Schnabel durch die Stäbe hindurch ihre Jeans packte. Mit leiser Stimme erzählte sie Rocky aus ihrem Leben, staunte, wie einfach ihr die Worte über die Lippen kamen, jetzt, da sie sich einem Tier anvertraute.
Tief schaute sie in die glänzenden Äuglein des stillen Lauschers und fragte letztendlich: »Kannst du mir sagen, weshalb mein Papa meiner Mama immer wieder wehgetan hat? Er hat sie doch geliebt und trotzdem … Bin ich an allem schuld, weil ich nie gern sprach? Jurai und andere Typen wollten mich auch immer zum Sprechen zwingen, aber ich konnte einfach nicht, verstehst du?«
Nellys Blick verdunkelte sich, sie biss sich auf die Unterlippe, stöhnte leise und lächelte den Vogel gequält an, der sich von ihr durch die Stäbe streicheln ließ. Welch eine Erleichterung war es für sie, ein Lebewesen gefunden zu haben, dem sie die ungeschminkte Wahrheit einfach so offenbaren konnte, ohne dass danach Fragen auf sie einprasselten, die sie nicht würde beantworten wollen.
In eine für sie völlig neue Welt eintauchend, vergaß Nelly für kurze Momente, was gewesen war. Wurde aber ihr Denkapparat auch nur für eine Sekunde nicht zu ungeteilter Aufmerksamkeit gefordert, so sah sie sich wieder in ihrem alten, armseligen, von Angst geprägten Leben. Einer Angst, die ihr nur Mama hatte nehmen können; als ihr Herz noch schlug. Lina war eine wundervolle Mutter gewesen und mit ihrer Tochter so eng verbunden, dass sie sich auch ohne Worte verstanden. Nellys ausgeprägte Introversion führte dazu, dass sie in Tennborg in die Sonderschule eingewiesen wurde, und Papa tat sich schwer mit dem Handicap seiner Tochter, verwünschte manchmal die ›stumme Mimose‹, die das Maul nicht auf Kommando aufbrachte. Linas unerschütterliche Liebe zu Mann und Kind hielt die Familie beisammen. Zweifellos liebte Paul seine schöne Lina und doch war er immer wieder grob zu ihr. Wie an jenem Abend.
Es war eine Sache zwischen Eheleuten; im Bett.
Jedes Mal, wenn er Mama wehgetan hatte, ging Paul Kerr zur Beichte.
Er ging oft zur Beichte.
Nach Mamas plötzlichem Tod entsagte Papa dem Alkohol; fast ein ganzes Jahr.
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Zarte Pflanzen in der Entwicklungsphase
Auszug aus meinem Buch »Der noble Sarg:
…, das Atmen fiel ihr leichter, der Körper erholte sich bald von den Strapazen und sie fand Gefallen am Herumreisen, staunte, wie groß ihr die Welt auf einmal vorkam, wie hell und warm die Sonne auch für sie zu scheinen begann.
Für sie, die bis dahin den Horizont mit ausgestreckten Händen berühren konnte, für sie, die in ewiger Düsternis dahinvegetierte, glaubte, das Glück sei ausverkauft.
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