Teufel Alkohol und Drogen
Acryl 50x70 verkauft


Das neue Haus für Randständige an der Fabrikstraße 28 – 8005 Zürich
Seit Pfingsten 2007: http://www.fraga.ch/

Bald ist das Chrischtehüsli Legende …

Reportage

Franziskanische Gassenarbeit
in Zürich im Kreis 4

CHRISCHTEHÜSLI:

Eine kleine 3-Zimmerwohnung im Herzen des Milieus, ein paar Schritte von der berühmt-berüchtigten Langstraße entfernt. Drei Stufen führen vom Gehsteig zu der Glastür, durch welche man direkt in das kleine Wohnzimmer gelangt. Offen eingegliedert ist die Küche hinter der Bar. Im Wohnzimmer stehen Tische und Stühle und ein Klavier. Eine Gitarre lehnt an der Wand. Der Raum hat Fenster zur Straße und eines zum Hinterhof. Menschen, die vorbeigehen, haben Einblick in die kleine Stube.
Von einem engen Korridor gehen drei Türen ab. Eine führt zur Toilette. Ohne Schlüssel. Wer auf das Örtchen muss, dreht das Schild, das außen an der Tür baumelt auf besetzt und wenn das Geschäft erledigt ist, wieder auf frei.
Durch die zweite Tür gelangt man in einen kleinen Raum, in dem ein Tisch mit Stühlen steht. An einer Wand liegen Decken bereit für Menschen, welche für ein paar Stunden Ruhe brauchen.
Hinter der dritten Tür ist das Büro. Dort wird auch alles deponiert, was sicher verwahrt werden muss; Jacke, Geld und so weiter. Der Raum wird immer abgeschlossen, der Schlüssel in der Küche auf den Kühlschrank gelegt, wo Junkies keinen Zutritt haben.  

Montag, 22. August 2005:  Mein Mann Bruno brachte mich auf den 9.15er Zug in Bassersdorf. Kurz nach halb zehn sprang ich in Zürich auf den Perron und erreichte nach einem zügigen Fußmarsch schon um 9.45  Uhr das Chrischtehüsli an der Zwingli-Straße 33, wo ich von fünf Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen freundlich empfangen wurde. Kaffee in einer Thermoskanne stand bereit. Lukas holte Gipfeli. Bruder Benno trudelte ein und leitete den Hauskreis, an dem nur Helfer/Innen teilnahmen; die Leute von der Straße waren spät dran an diesem Morgen.
Gebete für diejenigen, denen es schlecht geht, kamen über Bruder Bennos Lippen. (Bruder Benno-Maria, etwa 35 Jahre alt, sieht unverschämt gut aus! Seine braune Kutte steht ihm gut :) – , überall lauert die Versuchung für ihn, er hat keinen leichten Job.)
Lieder wurden gesungen, die ich noch nie gehört habe. Im Buch hatte ich die für mich fremdartigen Texte vor mir. Ich sang trotzdem mit. Im Kreis herum wurde dann aus der Bibel vorgelesen; ich brauchte Hilfe, die richtige Seite in dem Wälzer zu finden. Auch ich las zwei Mal einen Abschnitt vor. Natürlich gab es Diskussionen, weil ich angeblich nicht christlich denke …
Dann eine halbe Stunde absolute Ruhe; für die Christen Gebet, für mich Meditation mit Atem-Achtsamkeit und Reise ins Innere. Zwei Mal heulten Sirenen an der Langstraße drüben. Junkies kamen herein, wollten Kaffee und Bruder Benno jagte die Störenfriede gnadenlos hinaus, weil sie keine Ruhe geben wollten. Sie setzten sich vor der Glastür auf die Treppe und warteten, bis die stille halbe Stunde vorüber war.

Ein Wagen fuhr vor, brachte viel Esswaren von Restaurants, welche kurz datiert zum raschen Gebrauch bestimmt sind.
Mittagessen wurde von Trudi gekocht: Rösti mit Geschnetzeltem und Pilzen an Rahmsoße und Salat. Und Sirup zum Trinken. Ich half Tische decken und servieren, danach abwaschen und aufräumen. Dann wieder Kaffee und dazu Biskuits.

Im hinteren Raum legten sich vier Leute am Boden auf Decken schlafen. Einer schlief auf einem Stuhl, weil am Boden kein Platz mehr war; eine traurige Gestalt, völlig zugedröhnt. Groß, mager, sein Gesicht kalkweiß. Dunkles Kraushaar, flaumiger Schnauz und Kinnbart; er erinnert mich an Bischi … – einen Freund aus meiner eigenen Drogenzeit.

Den ganzen Nachmittag war ein Kommen und Gehen, es wurden Unmengen Milch und Kaffee getrunken. Drei Leute wollten das verpasste Mittagessen nachholen. Trudi drückte ein Auge zu, erlaubte mir, Gemüse-Ravioli zu kochen. Darüber goss ich von der übrig gebliebenen Rahmsoße, in der noch ein wenig Fleisch und Pilze schwammen. Dazu gab es je ein Tellerchen Salat. Ich erntete dankbare Blicke für den Spezial-Service.

»Pingu« breitete seine Sorgen vor Bruder Benno aus. Ihm zu helfen ist nicht leicht, denn er ist nicht in der Lage, sich irgendwo zu integrieren. Ihm sind die Zähne ausgefallen. Er möchte eine Prothese, aber offenbar gibt es da auch Probleme. Der arme Kerl hat keine Schlafstelle und ich weiß nicht, ob es Bruder Benno gelungen ist, ihm eine zu beschaffen.
Die meisten Leute sind sehr wortkarg, aber einige erzählen gerne ein wenig aus ihrem Leben. Ein netter junger Mann ist seit langer Zeit auf Methadon, mit ihm unterhielt ich mich ziemlich intensiv. Zwar hat er eine kleine Wohnung, doch dort fällt ihm die Decke auf den Kopf und so kommt er gerne ins Chrischtehüsli, um etwas zu essen und Gesellschaft zu haben. 

Ein Vietnamese kam herein, trank einen Kaffee, nahm die Gitarre zur Hand und spielte eine Weile wunderbare Musik, danach verschwand er wortlos, wie er gekommen war.

Mager, ausgezehrt, mit flackerndem Blick betrat mitten am Nachmittag ein Mann die kleine Wohnstube. Hunger hatte ihn hierher getrieben. Essenszeit war längst vorbei.
»Salat, gebt mir wenigstens Salat, den kann ich essen«, sagte er nervös, leichte Aggression in der Stimme. Die schmalen Lippen um den zahnlosen Mund bebten erregt.
Eine Mitarbeiterin richtete ihm eine ganze Schüssel Salat, stellte sie vor ihm auf den Tisch. Tief beugte er sich darüber und schaufelte das Grünfutter mit einer Gabel in sich hinein. Ich brachte ihm eine Serviette, damit er sich den Mund abwischen konnte.
Nach einer Weile bat er um noch mehr Salat und ich nahm die Schüssel, füllte sie wieder, goss Salatsoße darüber.
Als er die Hälfte vertilgt hatte, blickte er hoch, sagte: »Hast du eine Zigarette für mich?«
»Wenn du die Schüssel leer gegessen hast, bekommst du eine«, antwortete ich.
Es war mir ein Rätsel, wie er es schaffte ohne Zähne, diesen Berg Salat innert kürzester Zeit in seinen Magen zu befördern, doch er brachte es fertig, stand auf und streckte verlangend die Hand aus. Ich reichte ihm die versprochene Zigarette, ging mit ihm vor die Tür.
»Danke, Feuer habe ich selber«, nuschelte er, lehnte sich an die Brüstung des Fensters und atmete tief durch.

An meinem ersten »Gassenarbeitstag« habe ich drei Mal gegen eine Regel verstoßen: Drei Zigaretten machten dem jeweiligen Empfänger eine kurze Freude. Ich wurde belehrt, keine Suchtmittel zu verteilen. Nächsten Montag werde ich mich an diese mir nun bekannte Regel halten.

Die meisten Frauen und Männer leiden unter Beschaffungsstress; Frauen schaffen auf dem Strich an. Keiner denkt wirklich ernsthaft ans Aufhören mit dem Scheiß.  Um 17 Uhr ging ich mit Bruder Benno zur Langstraße, wo er an einer Ecke stehen blieb. Sofort kamen einige Bekannte aus der Szene und schwatzten mit ihm.

Von halb sechs bis halb sieben wurde im Hinterzimmer vom Chrischtehüsli wieder gebetet; ich traf mich mit meiner Freundin Claudia. Wir setzten uns in ein Café, quatschten ein wenig, dann ging ich zurück ins Chrischtehüsli und half beim Nachtessen servieren: Gschwellti (Pellkartoffeln) mit Mortadella, Käse und Salat, Sirup. Alle Plätze waren besetzt.

Ein junger Mann kam mit einem überaus freundlichen Rottweiler, der Mortadella mochte, aber die Kartoffeln verschmähte.

Wenig später setzte sich eine völlig gestresste Frau an den Tisch. Sie brauchte unbedingt ein Mittelchen und keiner hatte was bei sich … An diesem regnerisch kühlen Tag kam sie mit kurzem Jupe und nackten Beinen. Ich fragte sie, ob sie nicht friere. Verdutzt schaute sie mich an, gab aber keine Antwort.

Nach dem Abwasch marschierten Bruder Benno und ich zum Bahnhof. Er sagte beim Abschied: »Bis nächsten Montag!«
Er akzeptiert mich, wie ich bin. 

Im Moment bin ich noch daran, das Gesehene und Erlebte zu verarbeiten. Vielleicht fiel mein Bericht etwas nüchtern aus, aber so ist es gewesen.

 Roswitha



 Roswitha mit Duschka, August 2005 – Schloss Vellexon, Frankreich


Reportage 2: Montag, 29. August

Wunderbares Wetter, unwirkliche Stimmung. Wie im Traum wandle ich vom HB Richtung Chrischtehüsli. In der Eisgasse geht eine junge Frau barfuß mitten auf der Straße. Bleibt plötzlich stehen. Wankt. Im Zeitlupentempo. Gleich fällt sie hin, denke ich und trete zu ihr, frage, ob sie Hilfe braucht.
»Nein, nein, ich suche meine Schuhe, überlege, wo ich überall gewesen bin.«
Sie heißt Géraldine, will nicht mit mir kommen.
An der Ecke Lang- Zwinglistraße treffe ich den jungen Zivi Lukas, der Gipfeli holen geht.

Bruder Benno öffnet seinen Laptop, schleicht schwarz ins Internet und klickt auf meiner HP die Seite mit meiner ersten Reportage vom letzten Montag an. Schiebt den Laptop zu Simone. Ihre blauen Augen streifen Bruder Benno mit einem schalkhaften Blick, versteht, dass sie das Vorlesen meines Aufsatzes übernehmen muss.
Ich darf mich freuen. Meine erste Arbeit gefällt Gottfried, Vittorio, Rose, Lukas, Simone, sowie Bruder Benno, der geradezu begeistert ist.
Rose bringt mich dazu, aus meiner Alkohol- und Drogenzeit zu erzählen. Grob umreiße ich meine Vergangenheit, bekomme einen heißen Kopf dabei.

Schwarze Haare mit frechem Schnitt umschmeicheln Simones hübsches Gesicht. Die junge Frau ist hochschwanger. In etwa fünf Wochen wird ihr Töchterchen das Licht der Welt erblicken. Der Vater hat sich verkrümelt, hat sich auf Drogen eingelassen und scheut die Verantwortung. Simone, wenn auch traurig darüber, freut sich auf ihr erstes Kind und liebt es heiß.
Sie greift zur Gitarre, beginnt zu spielen. Siebenstimmig schmettern wir ein paar Lieder, erfreuen die Passanten. Hoffe ich. Dann spricht Benno ein Gebet für mich, während die anderen weiter singen. Gebannt lausche ich seinen Worten, schließe die Augen, spüre die Wärme seiner Hand auf meiner Schulter. Das Gebet ist zu Ende, es wird für eine Sekunde still, dann stimmt Benno einen eigenartigen Singsang an. Die fremdartigen Worte verstehe ich nicht, doch mir ist, als wäre ich bei den Aborigines und im Hntergrund untermalen wunderbare Klänge eines Didgeridoos den erhebenden Moment.
Ich bin sehr berührt, auch ein wenig verlegen. In seinen grüngrauen Augen nehme ich ehrliche Zuneigung wahr.

Géraldine geht vorüber, äugt in unsere Stube. Ich weiß nicht, ob sie ihre Schuhe gefunden hat.

In der folgenden halben Stunde Stille fahren meine Gedanken Achterbahn …

Trudi kommt, kocht Süß-Sauers mit Fleisch und Ananas, dazu gibt es Reis und Salat. Heute kommen nicht viele Leute zum Essen. Vielleicht ist das schöne Wetter zu verlockend, draußen zu bleiben. Aber diejenigen, die trotzdem kommen, haben Probleme en masse. Von Goggi ist die Rede.
Ein Junge mit Rollbrett mit losen Schrauben verlangt einen Schraubenzieher. Wir können nicht dienen. Er klagt, die Jugos machen ihn fertig, hatten ihn schon mal zusammengeschlagen.
Diese Typen sind selber clean, verticken die Ware an süchtige Klein-Dealer, welche den Job machen, um sich den Selbstbedarf leisten zu können. Anzeigen kann er die Typen nicht, er hat selber zu viel Dreck am Stecken – und mörderische Angst. Sie haben ihm schlechte Ware angedreht und nehmen das Zeug nicht zurück, wollen Bares sehen. Er will eine Pistole kaufen und die Mistfinken abknallen.
»Hättest du Geld für eine Pistole, wäre es gescheiter, deine Schulden zu begleichen und nicht noch mehr Mist zu bauen«, werfe ich ein.
Unmutig knurrt er etwas vor sich hin und zieht Leine.
Einige Jungs gehen auf den Strich, holen sich Aids und andere Schweinereien.

Sein braunblondes Haar reicht ihm fast bis zu den Schultern.Vergammelt sieht er nicht aus. Spricht kaum, wirkt aber trotzdem freundlich. Gemächlich verzehrt er neben anderen Gästen sein Mittagessen, dann legt er sich im Zimmerchen schlafen.
Am Nachmittag halten Massimo und ich die Stellung im Chrischtehüsli. Die anderen sind alle unterwegs. Ich verteile ein paar späte Mittagessen, es hat noch genug.
Doris geht es nicht gut. Wir sitzen zusammen vor dem Haus, betrachten die schönen, pastellfarbenen Fassaden der gegenüberliegenden Häuser. Eine eschenartige Pflanze rankt sich über die Balkone hoch. Sieht hübsch aus. Auf den Dächern erspähen wir kleine Gärten, deren Pflanzen in den heute blauen Himmel wachsen. Sie und ihr Freund möchten eine größere Wohnung. In ihrer 1-Zimmerwohnung können sie sich kaum drehen …
Daniela musste aus der Wohnung flüchten, ihr Freund drehte durch. Sie hält Bruder Benno den ganzen Nachmittag auf Trab. Sie verschenkt wunderschöne Mondsteine. Ich bekomme auch einen. Daniela ist rückfällig geworden, spritzt wieder. Ich hoffe, sie kriegt die Kurve noch ein Mal; es wäre schade um sie, wenn sie ganz im Sumpf versinken würde.
Ein junger Mann hat einen offenen Unterarm, eine riesige Wunde, die nicht heilen will. Daniela gibt ihm eine Salbe, die helfen wird. Geduldig, direkt liebevoll massiert er die Salbe auf das nackte Fleisch, bedankt sich herzlich
Andy ist bereit für den Entzug. Simone bringt ihn morgen früh zu Bruder Benno auf die Insel.
Ein Lichtblick, der hoffen lässt.
Ah ja, ich habe erfahren, dass Pingu letzten Montag doch noch eine Unterkunft bekommen hat! Und falls er neue Zähne bekommen sollte, muss er darauf achten, dass sie ihm nicht wieder gestohlen werden … Ja, es gibt nichts, was es nicht gibt.
Eine dunkeläutige magere Frau mit Kindergesicht, das irgendwie alt aussieht, nuschelt, sie sei beim Arz gewesen, müsse morgen ins Spital: Kieferbruch im hinteren Teil des Mundes. Wahrscheinlich wurde sie geschlagen.

Um halb sechs muss der braunblonde Mann das Feld räumen. Im Ruhezimmer wird bis um halb sieben gesungen und gebetet. Ich denke, für die Helfer ist es eine nötige Regenerationszeit, die sie sich nehmen müssen, um mental und körperlich fit zu bleiben.
Währenddessen bereite ich das Nachtessen vor.
Ich warte vergebens auf Eliane, die ich letzten Montag kennen gelernt habe:
Groß, schlank, eine Haut wie Milchschokolade. Augen, in denen ein stummes Flehen leuchtet. Zartgliedrig ist diese junge Frau, einer Gazelle gleich. Das hübsche Gesicht, von goldbraunen Locken umrahmt, strahlt Reinheit aus.
»Eine trügerische Reinheit«, bemerkt Bruder Benno, als ich ihm von Eliane erzähle, »sie lässt nichts aus, mich zu verführen …«

Benno hat mich zur freien Mitarbeiterin erklärt. Er liebt es, die Dinge ohne Umschweife beim Namen zu nennen.
Wer kann da schon NEIN sagen – BIGSMILE

Roswitha


Reportage 3: Montag, 5. September

Weiß der Kuckuck weshalb, heute fand ich gar keinen Gefallen an den Andachts-Liedern. Wenn schon, wäre mir mehr nach Gospel-Sound zu Mute gewesen.
Maria-Theresa, eine noch junge, heitere Frau mit einer liebevollen Ausstrahlung, kam nach einem Monat in der Stille wieder mal unter Leute. Eigentlich hatte ich sie in einer braunen Kutte erwartet, doch sie war weltlich gekleidet ;-))
Es war ein turbulenter Morgen. Pingu zog seine Show ab, motzte über dies und das, ging zur Toilette, erschien letztendlich nur mit Shorts bekleidet in der guten Stube, präsentierte seinen sonnengebräunten Oberkörper und die langen Beine, doch niemand schenkte ihm besondere Beachtung.   

Vittorio, Präsident des Frondienst-Teams, ist ein eher introvertierter Mann, der das Geschehen um ihn herum mit aufmerksamem Blick und offenem Ohr verfolgt. Für ein Gespräch ist er immer bereit, doch drängt er sich nicht auf. Oft geht er in Gefängnisse, redet mit Inhaftierten. Suhlt einer sich in Selbstmitleid, anstatt zu seiner begangenen Tat zu stehen, kommt sogar ihm die Galle hoch. Vittorio hat keinen leichten Job und manchmal fällt es auch ihm nicht leicht, ruhig und gelassen zu bleiben.

Und da ist Gottfried, der ältere, stets hilfsbereite freundliche Mann, dessen Anwesenheit kaum auffällt. Wäre er nicht da, würde etwas fehlen. Ich mag ihn sehr und er scheint auch mich zu mögen, obwohl ich eine so genannte Nicht-Christin bin. Zwischen ihm und mir ist spontan eine freundschaftliche Herzlichkeit entstanden, als würden wir uns schon ewig kennen.
Auch Rose, die jugendlich aussehende, schlanke ältere Dame, hat ihr Herz einen großen Spalt weit für mich geöffnet. Obwohl sie offensichtlich unter dem Leid, das ihr im Chrischtehüsli begegnet, innere Tränen weint, ist sie unverdrossen an der Arbeit und trägt einen großen Teil dazu bei, dass mit der Verpflegung der Randständigen alles reibungslos läuft.
Da Trudi Ferien hat, kochte heute Maria-Theresa: Spaghetti mit Tomatensoße, Salat. Fein!
Ein alter Mann mit flaumiger Glatze und Stoppelbart genoss das Essen sichtlich. Vergammelt wie er ist, hat er seine Würde behalten. Anstand und gute Umgangsform sind nicht verloren gegangen. 
Nach dem Mittagessen legten sich sechs völlig fertige Gäste im hinteren Räumchen schlafen. Vier an der Wand aufgereiht wie Sardinen, zwei lagen unter dem Tisch ausgestreckt.

Der nette Methadon-Konsument beehrte uns heute auch. Es geht ihm den Verhältnissen entsprechend gut. Lange habe ich mit dem 20-jährigen Rollbrettfahrer und Dealer »aus Not« gesprochen. Er weiß, dass er jetzt eigentlich sein Schicksal in die Hände nehmen und etwas »Gescheites« anleiern müsste. Doch leider sind seine Gedanken noch allzu sehr im mörderischen Kreislauf der Sucht gefangen.
Mit einer hochdeutsch sprechenden, 43-jährigen und von Heroin abhängigen Frau habe ich mich auch lange unterhalten. Ich weiß nicht, wie sie es schafft, über die Runden zu kommen. Sie hat keine Schlafstelle, übernachtet irgendwo, sieht trotzdem nicht abgerissen aus. In der rotierenden Mühle der Sucht gefangen, ist sie noch nicht bereit, etwas zu ändern, denn wenn sie den Stoff intus hat, geht es ihr gut …
Daniela kam angetanzt, hatte »eine Wut im Ranzen«. Es ist nicht einfach, ihr zu helfen.

Mir kommt es vor, als hätten wir den ganzen Tag gekocht. Nach dem Mittagessen wusch Simone Kartoffeln. Bald schon setzte Rose Wasser auf, ging dann mit Maria-Theresa einkaufen. Am Abend gab es Kartoffelsalat, gebackenen Fleischkäse, eine Käseplatte und Salat.

Korbinian studiert Geschichte und Philosophie und schnupperte heute zum ersten Mal Chrischtehüsli-Luft. Am Nachmittag durfte er mit Bruder Benno auf die Gasse. Ich wäre auch gerne mitgegangen, musste aber die Stellung in der guten Stube halten.
Um 17.25 Uhr wurden die Langschläfer geweckt und hinauskomplimentiert. Protest und Gemotze nützten nichts, die Gebetsstunde wurde wie immer eingehalten.
Währenddessen bereitete ich das Nachtessen vor. Es gab ziemlich viel zu tun, doch ich war der Anforderung gewachsen, atmete erleichtert auf, als endlich alle zufrieden mampfend vor den gefüllten Tellern saßen.
Der Wirbelwind Natascha, schwarz wie dunkle Schokolade, kam auf ihren Rollerskates, half nach dem Essen wacker beim Abräumen der Tische und Abtrocknen des Geschirrs. Sie musste auf Speed gewesen sein, gab ihren Leidensgenossen mächtig auf den Geist mit ihren spontanen Belehrungen …
Eliane, die hübsche Farbige, sieht einfach schwarz, ist nicht bereit, etwas zu ändern. Sie hasst sich selbst für ihr Tun, findet, sie sei es nicht wert, umsorgt zu werden, sucht aber trotzdem mit jeder Faser ihres Seins nach Zuwendung.

Am Donnerstag findet das Grümpelturnier statt. Ich werde »mittschutten« und mein Mann Bruno wird als Schiri mit der Pfeife aktiv sein. Bin gespannt, ob Bruder Benno die braune Kutte ablegt, um den Ball zu kicken –, obwohl, mir wurde gesagt, er habe drunter gar nichts an … Ob er sich für das Turnier in weltliche Sportkleidung hüllt?


Donnerstag, 8. September

(Gespielt wurde vis-à-vis K&A Brunau auf den Sportplätzen der Allmendstraße 1)

Leider war Bruder Benno-Maria verhindert. Vittorio verriet mir, dass Benno, wäre er gekommen, wie die anderen Grümpelturnier-Teilnehmer gekleidet gewesen wäre.
Hoch stand die Sonne am blauen Himmel, überschüttete die eintrudelnden Mannschaften verschwenderisch mit ihren goldenen, heißen Strahlen.
Ein Wetter zum Tore schießen!
Karenina mit den in Tausend Zöpfchen geflochtenen langen Haaren war für den Spielplan verantwortlich und sorgte mit Simone dafür, dass entscheidende Spielphasen mit dem Fotoapparat eingefangen wurden.
Beim Einspielen stellte ich fest, dass der Fußball ziemlich schwer ist; schade, ging es nicht um ein Tennismatch, da hätte ich mich wesentlich wohler gefühlt.

Nun, alle Gruppen gaben ihr Bestes.
»Adlerfeder« schlug fleißig die Trommel, hielt mit dem monotonen Sound und gleich bleibenden Rhythmus die Spieler auf Trab.
Nachdem unserem langen Kampfsportler-Torhüter ein ähnliches Missgeschick passierte wie Zubi gegen die Israeli, stand er frustriert mit mir und dem »kleinen Breiten« zum Einwechseln parat und überließ dem Portugiesen Manuel die Verteidigung im Tor.
Der »kleine Breite« und ich wurden geschont. Wir wären wohl nur zum Einsatz gekommen, hätten sich Top-Spieler wie Vittorio, Emmanuel, Manuel, Florian oder gar  der Superstürmer Massimo ernsthaft verletzt. (Falls ich jemanden vergessen haben sollte, bitte ich um Verzeihung. Ich konnte mir einfach nicht alle Namen merken.)
Geniale Pässe vom wieselflinken Vittorio wurden ein paar Mal von einem reaktionsschnellen Kollegen im gegnerischen Tor versenkt, doch ein Hattrick wollte nicht gelingen, und so schaffte es das Chrischtehüsli-Team leider nicht ins Final.
Gegen Ende des letzten Spiels stand ich eine Minute im Einsatz, leider ohne Ballkontakt :-)

Die Begegnungen der Gruppen verliefen friedlich. Erst in der Endphase lagen einige Nerven blank und so wurde Schiri Bruno von einer molligen schlitzäugigen Zuschauerin mit ihrem rosaroten Schirm auf dem Platz angegriffen. Zum Glück gingen beherzte Spieler dazwischen, drängten die mit ihrem Schirm auf Bruno Eindreschende vom Platz, sonst hätte ich meinen Mann vielleicht als »Einhorn« mit nach Hause nehmen müssen …

Ich denke, dieses Grümpelturnier war für alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen sowie Zuschauer und Zuschauerinnen ein unvergessliches Erlebnis.

Bye-bye zusammen bis am nächsten Montag!
Eure Roswitha 

Weiter zu Reportage 2 * 3 * 4 * 5 * 6