xxx


Trilogie
1.30x3.06 m


Der alte Mann und das Ei des Adlerpaares

In Raphaels Elternhaus wurde Zucht und Ordnung gepredigt. Morgens und abends las Vater je eine Stunde aus der Bibel vor. Schon als kleiner Junge konnte Raphael viele Verse auswendig aufsagen und die Eltern lobten ihn.
Sie freuten sich, dass ihr Sohn die Bibel sogar bei der strengen Feldarbeit mit sich trug und in den kurzen Erholungsphasen darin las.

Eines Tages begegnete ihm auf dem Heimweg eine junge Frau, in die er sich auf der Stelle verliebte. Sie redete mit Pflanzen und Tieren, zeigte ihm kleine Wunder der Natur, auf die er noch nie geachtet hatte. Raphael öffnete das heilige Buch, zeigte ihr seine Welt.
Die junge Frau klappte das Buch zu, schaute ihm tief in die Augen und sagte: »Warum klammerst du dich an die Bibel? Schau dich um, lebe im Hier und Jetzt. Befreie dich vom Zwang, lerne dich selbst lieben und du wirst deine innere Freiheit genießen wie ich.«
Enttäuscht wandte Raphael sich von ihr ab. Noch intensiver beschäftigte er sich mit der Bibel, wusste den Text bald lückenlos auswendig, konnte jede beliebige Stelle wie aus der Pistole geschossen rezitieren.
Der Pfarrer und die Eltern waren stolz auf ihn. Raphael wurde zum Vorbild seiner Mitmenschen und gelangte zu Ruhm in der ganzen Welt. Das alles reichte dem inzwischen alt gewordenen Mann nicht. Er sehnte sich nach der Erleuchtung, die ihm alle Bürden des weltlichen Lebens abnehmen würde.

Eines Nachts hörte er die Stimme des Allmächtigen klar und deutlich sagen: »Du musst den Text des heiligen Buches vom Ende bis zurück zum Anfang wortgetreu auswendig rückwärts wiedergeben, dann erlangst du die absolute Erleuchtung, mein Sohn.«
Sogleich übte der alte Mann, sprach laut die Worte: »Nhos niem, Gnuthcuelre etulosba eid ud tsgnalre nnad …«
Er nahm die Herausforderung an, beherrschte die Kunst des rückwärts Rezitierens bald perfekt.

Im Guinnessbuch der Rekorde bekam Raphael einen Ehrenplatz.
Die Christen verehrten ihn, eiferten ihm nach.
Der Papst sprach ihn heilig.
Nur die so heiß ersehnte Erleuchtung blieb ihm versagt.

In seinem Innern breitete sich eine unsägliche Leere aus. Er erklomm den höchsten Gipfel des Berges über seinem Heimatdorf, suchte in den unendlichen Weiten des Himmelszelts vergebens nach einem Zeichen Gottes.
Traurig beobachtete er den Flug eines Adlerpaares.
Die beiden hatten ihre zweite Hälfte gefunden, gehörten untrennbar zueinander. Bald entdeckte er den schwer zugänglichen Horst. Das Weibchen saß auf einem Ei, in dem sich neues Leben entwickelte.

Mit Wehmut im Herzen erinnerte er sich an die junge Frau, die er der Bibel zuliebe verschmähte.

Jetzt erst begriff er, dass die schöpferischen Gesetze und Gebote in der Natur verankert sind.  

© Roswitha


weiter ––––>>>> *2 *3 *4

<<<<–––– zurück