Am nächsten Tag trieb mich die Neugier, auch ein wenig das schlechte Gewissen, in die Boutique. Ich erinnerte mich, dass Carmen und Isolde die neue Nachbarin besuchten und sie willkommen hießen, nachdem die Frau am Kiosk war und sich als Inhaberin der Boutique Madeleine vorstellte. Ich sah Frau Madeleine Schwitzgebel nicht, weil ich im Hinterzimmer nicht verkaufte Zeitungen köpfte, doch Carmen versicherte mir später, ich habe einen bühnenreifen Auftritt einer gewichtigen Persönlichkeit verpasst.
Vor dem Schaufenster blieb ich stehen, betrachtete die raffiniert präsentierte Auslage. Unglaublich faszinierende Modelle, teils glitzernde Materialien, die kunstvoll in Mohair eingearbeitet waren, entlockten mir ein bewunderndes Nicken. Zwischen all den herrlichen Stricksachen schimmerte unerhört aufreizende Unterwäsche, die bestimmt nicht von biederen Hausfrauen getragen wurde. Und mitten in der Pracht leuchtete ein Paar rote Socken.
Mein Blick wanderte ins Innere des Ladens. Ich trat näher an die Scheibe, sah eine Frau, einer dicken Kröte ähnlich, in einem Sessel sitzen. Gebannt, mit offenem Mund, starrte ich auf die Frau, die mit einer imposanten Perserkatze schmuste. Welch ein Fleischberg!, dachte ich despektierlich, kam mir sogleich fies vor.
Entschlossen betrat ich den Laden.
»Wow, Tschibeli, guck mal, wer da kommt!«, flüsterte Frau Schwitzgebel dem schnurrenden Tier ziemlich laut ins Ohr, worauf er sich maunzend aufbäumte, ihr seinen breiten Kopf unter das Kinn stieß, liebevoll und äußerst sanft in ihre Wange biss. Der Kater sprang von ihrem Schoß, hängte sich lustvoll an seinen Kratzbaum in einer Ecke des Raumes.
»Guten Tag, Madame«, begann ich zögernd, »entschuldigen Sie, dass ich erst jetzt komme. Ich bin Frau Zappa vom Kiosk.«
»Weiß ich doch, Engelchen, brich dir nur kein Zacken aus der Krone, jetzt bist du ja da«, röhrte sie, stemmte sich aus dem Sessel, stöckelte auf ihren hohen Bleistiftabsätzen erstaunlich sicher auf mich zu, packte meine Hand und schüttelte sie, dass ich befürchtete, sie würde mir den Arm auskugeln.
Die saloppe Art der stämmigen Frau Schwitzgebel brachte mich in Verlegenheit. Ihrem Blick ausweichend schaute ich mich um, griff nach einem Pullover, der mir in Farbe und Motiv sehr gut gefiel.
Frau Schwitzgebel fackelte nicht lange, stülpte mir das Teil einfach über den Kopf, zupfte es zurecht und gurrte verführerisch: »Passt perfekt!«
»Wenn Sie nichts dagegen haben, so sehe ich mich noch ein wenig um, bevor im mich entscheide.«
»Klar doch, warum auch nicht. Jedes Teil Einzelanfertigung, prima Material, exakte Arbeit, guter Preis, da werden wir uns schon einig. Magst du Katzen? Das ist mein preisgekrönter Tschibeli! Er möchte, dass du ihn hochhebst, er mag dich.«
Lächelnd wandte ich mich dem schönen Tier zu, nahm es auf den Arm. Der schwere Kater drückte sich schnurrend an mich, leckte mir zutraulich die Hand, schaute mir tief in die Augen. Nach einer Weile setzte ich ihn auf ein Tablar am Kratzbaum und wandte mich wieder dem Zweck meines Besuche zu. Die Wahl fiel mir nicht leicht. Mein schweifender Blick verfing sich an der Wand hinter der Kasse, die mit Fotos tapeziert war. Eine spärlich bekleidete junge Frau war in verschiedenen Posen abgebildet. Darüber hingen von der Decke zwei Paar riesige rote Socken, vermutlich über Plastikfüße gestreift. Eine originelle Dekoration, aber in krassem Gegensatz zu den Fotos.
»Tolle Aufnahmen! Ihre Tochter, Frau Schwitzgebel?«
Einen Moment stutzte sie, dann lachte sie grölend, legte ihre Hand aufs Herz und kreischte: »Tochter! Hahaha, voll daneben, Engelchen, guck genau hin.«, Sie nahm eine Pose ein, äugte mich schräg an und erklärte würdevoll: »Das bin ich mit neunzehn. Fünfzehn Jahre ist das her. Mensch, das waren noch Zeiten! Ich war die beste Stripperin im Blue Moon nebenan. Jetzt arbeitet dort und in der Zuhälterbar Wildcat meine Kundschaft, die sich um die obergeile Unterwäsche und die gestrickten Sachen reißt. Wird die Ware nun gekauft oder labern wir nur drum herum?«
»Ich nehme diesen Pulli und ein Paar rote Socken, bitte«, sagte ich rasch.
Es war mir peinlich, die Fotos erwähnt zu haben. Verstohlen warf ich vergleichende Blicke. Das einstmals zarte Gesicht war aufgedunsen und sehr ordinär geschminkt. Von den seidigen naturblonden Locken war ein Gestrüpp gebleichter Haare übriggeblieben. Der schlanke Körper glich nun eher einem aufgegangenen Hefekloß. Sie trug ein mit Lamé durchwirktes Kleid und war so richtig klotzig mit billigem Schmuck behängt. Das Lamé-Kleid spannte über der Brust, ließ das üppige Fleisch wie gärender Teig aus dem zu tiefen Ausschnitt hervorquellen. Das kurze Kleid entblößte die schweren Beine, deren Knies kaum auszumachen waren. Die unglaublich hochhackigen Pumps schienen in die leicht überlappende Haut der Füße eingewachsen zu sein.
»Völlig meschugge, das Jungvolk«, sagte Frau Schwitzgebel, ohne weiter auf ihre Vergangenheit einzugehen,»fährt total auf rote Socken ab! Die haben doch alle einen Knall in der Birne, aber mir soll’s Recht sein. Wie wär’s denn mit diesem verführerischen Body? Irgendwann entblätterst du dich doch auch, mein Engelchen.«
Verschämt senkte ich den Blick und schüttelte den Kopf, schluckte einmal leer, als sie mir den Preis der Ware nannte, für deren Kauf ich mich entschieden hatte. Zum Glück hatte ich genug Geld dabei. Fröhlich grinsend nahm mir die Matrone die Noten ab und ließ sie schwuppdiwupp im Ausschnitt verschwinden.
»Bye-bye, Engelchen, beehr mich bald wieder«, flötete sie mir nach, als ich den Laden verließ.
Sie ging mir einfach nicht aus dem Sinn. Seit der Begegnung im Roxy dachte ich immer wieder an das Geschwisterpaar Rotsock und Rotsöckchen. Der Bursche huschte hin und wieder am Kiosk vorbei, kaufte manchmal eine Illustrierte und wechselte ein paar Worte mit mir. Seine Schwester war nie dabei. Wenn ich ihn nach ihr fragte, gab er ausweichende Antworten. Oft tippelte ich durch die Stadt, Ausschau nach ihr haltend, stattete Charly in der Roxy Bar auch heute einen Besuch ab. Die schöne Frau und ihr Bruder waren seither nicht wieder da gewesen, bedauerte auch er.
Meine Enttäuschung bemerkend, offerierte er mir einen Whisky. Ohne darüber nachzudenken, warf ich den Vorsatz, trocken zu bleiben, über den Haufen. Verärgert über mich selber verließ ich nach zwei weiteren Drinks wenig später die Bar, ging die Rebgasse entlang, bog um die Ecke und stapfte den Chlupfsteig hoch. Unbarmherzig blendete mich die Sonne, erinnerte mich daran, dass in zwei Stunden meine Schicht im Kiosk begann. Ein Marsch um die Häuser, dann ein starker Kaffee und ich bin fit, hoffte ich. Als ich den großen Parkplatz oberhalb des Chupfsteigs erreichte, hielt gerade der Bus an der Haltestelle Heeerburgstraße. Sieben Personen stiegen ein, darunter eine elegant gekleidete Frau. Unter dem offenen Mantel trug sie ein Kostüm, dazu farblich passende Pumps. Um die Haare hatte sie ein feines Foulard geschlungen, was ihrem Aussehen einen mondänen Touch verlieh. Leichtfüßig ging sie die Treppe hoch, setzte sich ans Fenster.
Es war Rotsöckchen!
Sie musste etwas gespürt haben, denn sie schaute in meine Richtung. Unsere Blicke trafen sich. Eine Sekunde nur. Wir winkten uns zu. Der Bus verschwand hinter der nächsten Biegung der Straße. Ihr betörendes Lächeln aber begleitete mich noch lange, verhalf mir zu guter Laune.
In den nächsten zwei Wochen sah ich die Frau drei Mal. Immer zu weit entfernt. Erst das vierte Mal begegneten wir uns wirklich. Wir knallten mit den Köpfen zusammen, als wir uns gleichzeitig bückten, um die Orangen aufzusammeln, die aus meiner überfüllten Papiertüte kullerten. Heute kam sie in Jeans, lässiger Jacke und einer blauen Wollmütze daher. An der Stehbar des Kaufhauses tranken wir Tee zusammen. Im Gegensatz zu mir war sie völlig locker, erzählte sprudelnd lauter witzigen Unsinn. Als ich aufzutauen begann, war sie bereits wieder auf dem Sprung. Ein Mann stand am Eingang, nickte ihr auffordernd zu.
»Tut mir Leid, Honey, der Job schreit nach mir. Bis bald.«
In stiller Bewunderung schaute ich ihr nach. Der Typ legte den Arm um ihre Schultern und sprach auf sie ein. Ein in schwarzes Leder gekleidetes Rockerpaar, vernietet und verfranst von oben bis unten, gesellte sich zu ihnen. Angeregt unterhielten sich die vier Personen und ich fragte mich, ob diese tolle Frau den richtigen Umgang pflegte.
War ich dieser Frau nicht viel früher schon einmal begegnet? Kommt irgendwann das Aha-Erlebnis und ich frage mich, warum ich nicht gleich darauf gekommen bin? Da war doch vor langer Zeit jemand, der mich Honey nannte. Nein, sie hätte ich nicht vergessen.
Ach, zum Kuckuck!
An einem Mittwochabend kamen ein paar Freunde kurz vor Ladenschluss an den Kiosk, luden mich zu einer Beizentour ein. Meine Glucken waren gar nicht begeistert, befürchteten, ich könnte wieder in mein altes Fahrwasser geraten und weit über den Durst trinken. Großkotzig erinnerte ich Carmen und Isolde daran, dass ich erwachsen sei und sehr wohl wisse, was ich zu tun habe. Mein Selbstvertrauen war durch ein paar problemlos ohne Alkohol verbrachte Tage gestärkt. Ich war sicher, über der Sache zu stehen.
Zu fünft enterten wir die Wildcat Bar. Ein röhrendes Lachen erfüllte den schummerig beleuchteten Raum und die vielen Gäste amüsierten sich prächtig. Völlig baff starrte ich die Lady an, die für Unterhaltung sorgte. In diese Umgebung passte Frau Schwitzgebels Aufmachung, die mir bei Tageslicht so unmöglich vorkam. Die Männer schienen jedes Pfund an Madeleine zu lieben, betatschten und umschwärmten sie. Einige Dirnen, denen ihre Zuhälter eine Pause gönnten, alberten mit der prallen Frau herum, kreischten vor Vergnügen, wenn sie einen ihrer derben Witze fahren ließ. Die beiden Männer schoben uns drei Frauen an die Bar und bestellten eine Runde Red Label.
Madeleine schaute zu uns herüber und schrie durch den Krach: »Ach, du grüne Neune da ist ja mein Engelchen!«
»Guten Abend, Frau Schwitzgebel«, sagte ich verdattert.
»Habt ihr das gehört? Guten Abend, Frau Schwitzgebel, hat das Püppchen gesagt. Ich gehöre hier zum Inventar, bin jeden Abend da und betreue meine Mädchen. Gewöhn dich dran, Engelchen, nenn mich einfach Madeleine, hahaha!«
Sie konnte sich kaum erholen, und alle stimmten in das schaurige Gelächter ein. Ich trank einen Schluck, ließ das Gesöff durch die Kehle rinnen und lachte mit. Ich fragte mich, wann diese so unglaublich talentierte Handarbeitskünstlerin Zeit und Muße für Entwürfe und die anstrengende Strickerei fand, wenn sie jede Nacht in dieser Spelunke hockte. Wahrscheinlich brauchte sie die Abwechslung, um ihre Kreativität anzukurbeln. Zum Glück kümmerte sie sich nicht weiter um mich, wurde gleich wieder von ihren Leuten in Beschlag genommen.
Wenig später schlenderten wir aufgekratzt am Blue Moon vorbei, kehrten an der Vulkangasse im Café Du Nord, in der Räbluus und im Sternen ein. Danach wollten die beiden Paare in die Disco und so richtig abtanzen, doch als fünftes Rad am Wagen war mir das zu blöd. Ich trennte mich von den Freunden und schloss den Abend mit einem Schlummertrunk bei Charly ab. Danach brauchte ich dringend frische Luft. Ein kleiner Spaziergang wird meiner Matschbirne gut bekommen, dachte ich, als ich auf die Rebgasse hinaustrat.
Der Wind peitschte mir erbarmungslos winzige Eiskristalle ins Gesicht, nahm mir fast den Atem. Hastig riss ich die Kapuze hoch, schnürte sie unter dem Kinn zusammen, hob den Tragriemen der Handtasche über den Kopf auf die linke Schulter, steckte die Hände tief in die Jackentaschen und bog wankend in den dunkel vor mir aufsteigenden Chlupfsteig ein. Ich hatte, wie von Carmen und Isolde prophezeit, über die Stränge geschlagen. Das Wissen, dass ich Alkohol sehr schlecht vertrug, ignorierte ich am heutigen Abend wieder einmal. Mir graute schon vor dem Brummschädel am nächsten Morgen. Nur wenige Menschen waren noch unterwegs. Rechts und links des Steigs da und dort ein matter Schein hinter Vorhängen, das Kopfsteinpflaster schwach beleuchtend. Weiter oben ein breiter Lichtstrahl aus einem Hauseingang, der die Dunkelheit durchbrach, bis an die gegenüberliegende Fassade reichte. Dort befand sich ein Dojo für Judo- und Karatetraining. Ich war noch wenige Meter vom Eingang entfernt, als ich hinter mir Schritte vernahm. Arglos wandte ich den Kopf.
Ein schwarzer Schatten sprang mich an. Hart prallte der Fremde auf mich. Haare peitschten mein Gesicht. Er wollte mir die Handtasche entreißen. Da der Tragriemen übers Kreuz um meinen Körper lag, wurde ich herumgewirbelt, verlor den Halt und fiel hin. Schon war er über mir, ein Messer funkelte vor meiner Nase, ich spürte seinen heißen Atem, den Hauch des Todes, und aus meiner Brust löste sich ein infernalischer Schrei. Irritiert wich er zurück, gab mir die Gelegenheit, die Tasche als Schutzschild zu benutzen, die Beine anzuziehen und ihm die harten Stiefelabsätze in die Schienbeine zu rammen. Im selben Moment stach der Angreifer zu, kreischte zugleich schmerzerfüllt auf. Panisch starrte ich in seine verzerrte Fratze, umrahmt von einer üppigen Krausfrisur. Eine weitere Attacke auf seine empfindlichen Kochen und mein Dauerbrüllen veranlassten ihn zum Aufgeben. Wie von Furien gehetzt raste er den Chlupfsteig hinauf. Im Lichtschein des Hauseingangs sah ich rote Socken blitzen, und schon verschwand er in der Dunkelheit.
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