Auf dem Weg zur Vulkangasse brummelte Gzime: »Ich hielt mich bis anhin für eine gute Menschenkennerin, aber bei Rotsock liege ich voll daneben. Der Bruder machte einen so netten Eindruck auf mich, hätte nie gedacht, er könnte ein Junkie sein.«
»Du kennst ihn?«, sagte Kevin erstaunt.
»Kennen ist zu viel gesagt, Kevin. Ich traf ihn mal zufällig im Roxy und wir wechselten ein paar Worte. Wir trugen beide rote Socken und fast gleiche Pullis aus der Boutique Madeleine. Er verschwieg mir, dass die Schwitzgebel seine Mutter ist.« Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann lächelte Gzime plötzlich und sagte: »Als ich mich von Rotsock verabschiedete, trat ich einer jungen, hübschen Frau auf die Zehen. Drei Mal darfst du raten, wer das war.«
»Ach komm, sag schon.«
»Angela Zappa! Sie wohnt an der Vulkangasse sieben, gleich über ihrem Kiosk. Hast du daran gedacht, dass wir heute bei ihr zum Nachtessen eingeladen sind?«
»Ach ja, das ist heute. Passt prima, wir kommen nicht darum herum, deinem Schützling mal auf den Zahn zu fühlen.«
»Du hast Recht, sie könnte uns vielleicht wichtige Informationen geben, was ihren Mann betrifft. Du wirst die kleine Angie mögen, Kevin.«
Chris Schwitzgebel, genannt Rotsock, schlotterte am ganzen Leib, konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Zu dumm, hatte ihn Bodo gesehen. Die paar Briefchen Schnee, die er ihm zuschob, reuten ihn, aber es musste sein, dass er sein Maul hielt. Fünf Gramm kosteten immerhin gut 250 Stutz! Bestimmt war Bodo auch gleich abgehauen. Wenn der Drogenmufti zu sich kam, wurde es für jeden in seiner Nähe gefährlich. Herumballern konnte der Typ nicht mehr, die Waffe hatte Chris behalten. Wenn nötig, wollte er sich und seine Beute damit verteidigen.
Er brauchte dringend einen Schuss!
Nach einer geeigneten Stelle Ausschau haltend, bog Chris in den Runkelweg ein, der die Liegenschaften der Bahnhofstraße und der Vulkangasse teilte. Am Ende des Wegs lag der Hinterhof, der zu den Lokalen Wildcat, Blue Moon und den Anwohnern der Vulkangasse sieben gehörte. In den schmalen Zufahrten hielt sich niemand auf. Chris versteckte sich hinter einem Container, zerrte den Rucksack von den Schultern und nahm Besteck, Stoff und Taschenlampe heraus. Hektisch zitternd und bebend bereitete er alles vo, band den Arm routiniert ab und stach zu. Aufstöhnend sank er zurück und schloss die Augen. Zehn Minuten später war er wie verwandelt. Ruhig räumte er die Sachen weg, stand auf und ging sicheren Schrittes zur Haustür. Während er in allen Taschen nach dem Hausschlüssel suchte, wurde er plötzlich unsanft am Schopf gepackt.
»Heee …«, keuchte er erschrocken, »Mutter! Wo kommst du denn her?«
»Frag nicht so blöd, du weißt doch, dass ich jeden Abend einen im Wildcat zische. Wolltest du nicht früh ins Bett Mensch, Chris? Steckst du in Schwierigkeiten, dass du den Weg zu Mutter findest?«
»Ich hatte Zoff mit einem Händler …«
»Auf dem Fabrikgelände?«
»Die Arschgeige trieb ein echt fieses Spiel mit mir. Zuerst schenkt er mir Stoff, dann will er Kohle dafür, dieser verdammte Blutegel!«
»Im Wildcat hörte ich, dass dem Kerl das Hirn zermatscht und er ausgeraubt wurde. Geht das auf dein Konto?«
»Hätte ich mich von ihm erschießen lassen müssen, hä? Ich konnte seine Waffe schnappen und hab ihm damit eins verpasst. Das Hirn zermatscht Quatsch, der war doch nur bewusstlos!«
»Eben nicht, er ist hinüber, verstehst du?! Nicht genug, dass du dem Verbrecher auf den Leim gegangen, das Zeug genommen und süchtig geworden bist. Bist du nun endgültig übergeschnappt?«
»Hätte nicht gedacht, dass der eine so weiche Birne hat. Verflucht noch mal, das wollte ich nicht. Lass mich rein, Mutter, ich mache mich ganz klein, du bemerkst mich gar nicht. In ein paar Tagen ist Gras über die Sache gewachsen, dann verziehe ich mich wieder.«
»Nein, hier kannst du nicht bleiben, das ist mir zu gefährlich. Verschwinde, Chris, sonst zeige ich dir, wo Gott hockt!«
»Das weißt du? Hätte schon lange gerne gewusst, wo sich der gelobte Herr so herumtreibt. Also, wo hockt er?«
»Schwatz kein Blech, du Lümmel«, grunzte Mama Schwitzgebel erregt, schloss endlich die Tür auf und schob ihr Sorgenkind in den Flur. »Also gut, hau dich in die Pfanne. Aber vorher nimmst du ein Bad, du stinkst grauenhaft. Nimm dir aus Kurts Schrank frische Kleider. In einer Stunde will ich duschen, merk dir das! Und iss etwas. Gib mir den Rucksack, mal schauen, was drin ist.«
Geschickt wich Chris aus, nahm nur die kleine Aktentasche heraus: »Außer dieser Mappe habe ich nichts, was dich interessieren könnte, Mama. Ich habe einen Blick hineingeworfen, du wirst begeistert sein.«
Erschöpft ließ sich Madeleine auf das Sofa in der gemütlich eingerichteten Stube fallen, äugte argwöhnisch in die unscheinbare Tasche. Ihr Busen wogte über dem wild klopfenden Herzen, als sie die gebündelten Scheine in die Hände nahm. Ungläubig und misstrauisch kontrollierte sie den hereingeschneiten Segen. Die Banknoten waren echt! Schwer atmend zählte sie das Geld.
Hunderttausend Franken!
Sie musste sich beherrschen, ihre Freude nicht laut herauszuschreien. Wohin mit dem Segen? Sie brauchte ein absolut sicheres Versteck. Im Morgengrauen fruchteten ihre Überlegungen in der Lösung des Problems. Sogleich machte sie sich daran, ihre Idee in die Tat umzusetzen. Die leere Geldmappe musste weg. Leise schlich sie aus dem Haus und stopfte das verräterische Ding in den Abfallcontainer der Wildcat Bar. Wieder daheim, kümmerte sie sich um die herrlichen Scheine. Alles klappte wie am Schnürchen, bis sie von der Leiter fiel. Unter Aufbietung der letzten Kraftreserven schleppte sie sich ins Bad, kühlte den verknacksten Fuß, kroch ins Bett und lagerte ihn hoch.
Trotz Schlafmanko und Schmerzen brachte sie den Tag und die folgende Nacht bestens hinter sich. Am Mittwoch war der Fuß immer noch leicht geschwollen. Wohl oder übel verzichtete sie auf die eleganten Pumps, schlüpfte auch heute in bequeme Finken. Der Morgen ging schnell vorüber. Einige Kunden sorgten für das im Ohr angenehme Klingeln der Ladenkasse.
Nach dem Mittagessen ruhte sich Madeleine auf der Couch aus, hing ihren Gedanken nach. Bis jetzt war alles gut gegangen. Chris erholte sich erstaunlich rasch von den Strapazen. Heute Abend musste er das warme Nest verlassen, das Risiko war einfach zu groß, ihn länger hier zu verstecken. Sie wusste aus Erfahrung, dass mit gereizten Drogenhändlern nicht zu spaßen war. Kurz vor halb zwei schrillte die Türklingel. Seufzend erhob sich Madeleine, tappte durch den Flur und öffnete die Wohnungstür. Ein Fuß in einem teuren italienischen Modellschuh verhinderte ihre Absicht, dem ungebetenen Besucher die Türe vor der Nase zuzuknallen.
Drei Herren der ehrenwerten Gesellschaft begehrten Einlass.
»Könnt ihr nicht lesen«, brüllte Madeleine so laut sie konnte, um Chris zu warnen, »der Laden ist erst um zwei geöffnet!«
»Halt die Klappe, Schwitzgebel!«
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