Kaum daheim, zerflatterte mein strapaziertes Nervenkostüm. Ohne die Psychologin wäre ich aufgeschmissen gewesen. Ich warf mich auf mein Bett und heulte wie ein Schlosshund. Das schreckliche Abenteuer dauerte insgesamt gerade mal zwei Stunden, doch mir kam es vor, als sei ich vierzehn Tage in der Hölle gewesen. Frau Sieber setzte sich zu mir, hielt meine Hand und Kater Tschibeli leckte meine Nase, kuschelte sich an mich und schnurrte mir tröstend ins Ohr. Mein Bewusstsein rutschte in eine halbschlafähnliche Phase.
Wie sich Gzime wohl gefühlt haben musste, als sie ihren eigenen Bruder verhaftete? Was hatte Rotsock mit Madeleine Schwitzgebel zu tun? Ich konnte bezeugen, dass Kevin Stoller in Notwehr geschossen hatte … Erwin hat ins Gras gebissen … Guido im Gefängnis nur noch auf dem Papier mein Ehemann … Erlösender Schlaf enthob mich weiteren mühsamen Überlegungen. Irgendwann wachte ich von Durst geplagt auf.
»Schau mal, Schmusekater, das Murmeltier ist aufgewacht.«
»Mrrrrrrmriu!«
Ein breiter Fellkopf stieß an meine Wange, lange Schnurrbarthaare kitzelten meine Nase. Mit Mühe zog ich die Augenbrauen hoch, um meine verklebten Lider einen Spalt breit zu öffnen. Verwirrt starrte ich in zwei bernsteinfarbene, leuchtende Augen, strich lahm über zwei aufgerichtete Ohren, einen starken Nacken und den sich unter meiner Hand aufbäumenden Rücken. Neben der feuchten Nase, die meine anstupste, äugte ich zu der Gestalt, die auf meiner Bettkante saß und richtete mich auf.
»Gzime! Wo kommst du denn her?«, krächzte ich. »Ich hatte einen grauenhaften Traum.«
»Wenn es nur ein Traum gewesen wäre, Angela.«
Gegen 19 Uhr hatte sie die Polizeipsychologin abgelöst und sich an ihrer Stelle auf die Bettkante gesetzt. Eine halbe Stunde später wachte ich auf. Sie reichte mir ein Glas Wasser, schaute zu, wie ich es gierig austrank. Missbilligend schüttelte sie den Kopf. Sie brauchte die stumme Rüge nicht in Worte zu fassen. Ich hatte wieder gesoffen und fühlte mich schrecklich. Das war Strafe genug. Dumpf klang ihre Stimme, als sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge half. Stoller ging es nach der Operation den Umständen entsprechen gut. Frau Schwitzgebel erlitt einen Kreislaufkollaps. Die Kommissarin durfte kurz mit ihr sprechen. Unter Tränen würgte die Patientin hervor, man habe sie zu einer strengen Diät verknurrt. Dem Herz und den überforderten Gelenken zuliebe müsse sie abspecken. Alkohol sei ihr wegen der lädierten Leber auch noch verboten worden. Und sie jammerte, man müsse Chris finden, es gehe ihm nicht gut. Gzime beruhigte die Frau, sagte, ihr Sohn sei in guter Obhut. Rotsock war nicht vernehmungsfähig. Er stand unter Schock und musste nach der Behandlung seiner Blessuren in die Psychiatrie verlegt werden.
Mitfühlend sagte ich: »Es muss schrecklich für dich gewesen sein, Rotsock zu verhaften. Trotz allem, was er getan hat, tut er mir Leid.«
»Na ja, er hat einiges auf dem Kerbholz, für das er gerade stehen muss. Zu viel Mitleid ist fehl am Platz, Angela.«
»Aber er ist doch dein Bruder, Gzime!«, rief ich bestürzt.
»Wie kommst du auf diese absurde Idee, Angela? Ich habe keinen Bruder. Rotsock ist Madeleine Schwitzgebels Sohn.«
»Aber im Roxy sagte er laut und deutlich Schwester zu dir und du nanntest ihn Brüderchen!«, beharrte ich starrköpfig.
Grinsend erwiderte sie: »Du nimmst wohl alles wörtlich. An jenem Tag sah ich Rotsock und dich zum ersten Mal.«
Betroffen senkte ich den Blick, kam mir dumm vor. Aus purer Rücksichtnahme auf Gzime zeigte ich nicht auf Rotsock, obwohl ich sicher war, dass er mich überfallen hatte. Wäre er inhaftiert worden, sähe alles anders aus. Mein Mann wäre nicht in U-Haft und mein Schwager würde noch leben. Ich war schuld am ganzen Desaster! Hysterisch heulend vergrub ich meinen Kopf an Gzimes Brust. Ich brauche kein schlechtes Gewissen zu haben, sagte sie tröstend, doch ich war nicht zu beruhigen. Schließlich ließ sie Badewasser ein und steckte mich in die Wanne. Während ich apathisch im Wasser hockte, kochte sie das Abendessen, was eigentlich mein Job gewesen wäre … Auch Tschibeli wurde gefüttert, der inzwischen seine neue Umgebung eingehend erkundet hatte.
Als Gzime eine kleine Ewigkeit später den Stöpsel rauszog, fühlte ich mich zur Hälfte geschrumpft. Als sei ich ein kleines, unbeholfenes Mädchen, hob sie mich aus der Wanne, wickelte mich in ein Badetuch und rubbelte mich trocken. Im Bademantel setzte ich mich an den Tisch und ließ mich bedienen. In mein Selbstmitleid vertieft, erhaschte ich einen Blick in ihre traurigen Augen. Mir wurde bewusst, wie egoistisch ich war. Ihr Freund wäre beinahe ums Leben gekommen und ich dachte nur an mich! Scheu legte ich meine Hand auf ihre. Nach dem Essen ging Gzime duschen und kroch dann zu mir unter die Decke. Eng kuschelten wir uns aneinander, entflohen der bedrohlichen Realität ins barmherzige Land der Träume. Der sich schon heimisch fühlende Kater legte sich schnurrend um unsere Köpfe.
Um meinen Kiosk musste ich mir keine Sorgen machen. Carmen, Isolde und Omar kümmerten sich um alles. Abwechslungsweise besuchten sie mich, halfen mir, die Ereignisse zu verarbeiten. Vom von mir befürchteten Katzenjammer blieb ich dank Tschibeli verschont. Ich lief nicht Gefahr, wieder zur Flasche zu greifen. Der Kater hielt mich auf Trab.
Die Kommissarin nahm das Protokoll bei mir daheim auf. Sie rief mich täglich an oder kam kurz vorbei. Schonend brachte sie mir bei, dass bei meinem Mann eine richterlich angeordnete Hausdurchsuchung stattfand. Es wurde vermutet, dass Guido für seinen Bruder Heroin lagerte. Es wurde kein Gramm Rauschgift gefunden. Aber eine Leiche. In der Kühltruhe im Keller. Guido Zappa gestand, Cora im Affekt erwürgt zu haben. Wahrscheinlich hatte er meine Exfreundin gerade in die Truhe gestopft, als er mich anflehte, zu ihm zurückzukommen …
In der Psychiatrischen Klinik bemühte man sich vergebens um Rotsock. Er blieb stumm wie ein Stockfisch.
Die Fahndung nach Ehrsam lief auf Hochtouren.
In der Nacht auf Donnerstag wurde das Polizeisiegel an Madeleines Boutique gebrochen und die ganze Einrichtung des Ladens ruiniert. Die Fotos der einstigen Schönheit waren in Fetzen gerissen, die Verkaufsware lag überall verstreut und die großen Füße mit den roten Socken hingen schief an der Decke. Ob Ehrsam die versteckte Beute fand, wusste die Polizei nicht.
Als Gzime Berisha Frau Schwitzgebel im Spital für eine Befragung besuchte, fiel sie aus allen Wolken, denn Rotsock stand am Krankenbett seiner Mutter.
»Ich glaub ich spinne«, sagte die Kommissarin verblüfft, »du warst ziemlich schwer verletzt. Haben sie dir ein neues Gesicht verpasst? Bist du aus der Psychi getürmt? Grins nicht so dämlich!«
»Schon gut, Tante, krieg dich wieder ein …«
»Das ist Kommissarin Berisha, du frecher Lümmel, benimm dich gefälligst«, griff seine Mutter ein. Sei froh, hat Kurt wieder einmal seinen Kopf für dich hingehalten.« Erregt wandte sie sich der Kommissarin zu. »Was soll ich machen, Frau Berisha, mein Kurtchen, der den Verstand verloren haben soll, ist unschuldig! Das da ist Chris, schon seit neunzehn Jahren mein Sorgenkind. Er sprang aus dem Fenster, als die Mafiosi kamen und überließ seinen Zwillingsbruder, mein Katerchen und mich dem Schicksal. Was bin ich froh, dass das Engelchen sich um meinen Tschibeli kümmert.«
Mit offenem Mund hörte Gzime zu.
Als Chris abhauen wollte, griff sie hart zu. »Halt, mein Junge, Endstation!«
Sein zuvor dreistes Gehabe wich Bestürztheit. Als die Handschellen zuschnappten, winselte er, es tue ihm alles schrecklich Leid, was passiert war. Seine Mutter drehte sich zur Wand und schwieg.
Jetzt wurde mir einiges klar. Es war Rotsock Chris, der mich am Chlupfsteig überfiel und so hirnrissig reagierte, als ich ihn im Wald antraf. Aber auf dem Polizeiposten hätte ich auf seinen Bruder Kurt gezeigt, der ganz und gar unschuldig war.
Am nächsten Tag raffte ich mich auf und besuchte Madeleine. Als Erstes versicherte ich ihr, dass es ihrem Schmusekater an nichts fehle und er sich bei mir gut eingelebt habe. Dankbar nahm sie meine Hand. Sie hatte das Bedürfnis aus ihrem Leben zu erzählen und so erfuhr ich, welchen Lauf ihr Schicksal genommen hatte.
Die Zwillinge wuchsen im selben Heim auf, wo auch Madeleine Schwitzgebel ihre Kinderjahre verbrachte.
Ihr erstes sexuelles Erlebnis mit einem gleichaltrigen Jungen aus dem Heim hatte Folgen. Mit fünfzehn gebar sie ihre Söhne. Als man ihr die Babys einfach wegnahm, stürzte für sie einen Welt ein. In dieser Lebensphase lernte sie den um zehn Jahre älteren Heiri Ehrsam kennen. Bald erfuhr sie, dass er sein feudales Leben als Zuhälter bestritt. Madeleine war so dumm, auch für ihn auf den Strich zu gehen und blieb im Rotlichtmilieu hängen. Als sie im Blue Moon als Stripperin anfing, brauchte sie keinen Zuhälter mehr. Ehrsam begann mit dem Drogengeschäft und versuchte Madeleine da hineinzuziehen, aber sie weigerte sich und schickte ihn endgültig zum Teufel.
Sie hatte nie eine Chance, das Sorgerecht für ihre Jungs zu bekommen. Trotzdem besuchte sie die Kinder so oft sie durfte, versuchte, ihnen eine gute Mutter zu sein. Zu jedem Geburtstag bekamen die Buben von ihr je ein Paar rote Socken. Chris und Kurt nannten die Socken Seelenwärmer und trugen sie als Markenzeichen. Auf den siebten Geburtstag wünschte sich Kurtchen Stricknadeln und rote Wolle. Er war ganz versessen darauf, selber stricken zu lernen. Chris bekam einen Fußball und mokierte sich fortan über seinen strickenden Bruder.
Mit einunddreißig gab Madeleine die Stripperei auf, begann als Barmaid in der Wildcat Bar zu arbeiten und mietete eine geräumige 4-Zimmerwohnung. Die vergangenen Jahre hindurch sparte sie sich eine schöne Summe zusammen und hoffte, die nun sechzehnjährigen Zwillinge zu sich nehmen zu dürfen. Der Antrag wurde abgelehnt. Haben Sie noch zwei Jahre Geduld, dann sind Ihre Jungs volljährig. Mutter Schwitzgebel soff und fraß den Frust in sich hinein, wurde immer dicker. Dann bekam sie das Angebot, den Woll- und Mercerie-Laden samt Wohnung zu übernehmen. Ihr Kurtchen, der sich zu einem begnadeten Strickkünstler entwickelt hatte, war Feuer und Flamme. Chris hatte eine Grafikerlehre begonnen. Leider nahm er seine Arbeit nicht ernst, lungerte abends auf der Straße herum. Der Zufall führte ihn mit Heiri Ehrsam zusammen, der ihm Rauschgift schenkte und ihm einredete, mit dem Stoff flutsche ihm der Zeichenstift nur so und er werde Großartiges schaffen.
Es war ganz klar, dass Ehrsam Chris zum Drogenkonsum verführte, um sich an Madeleine zu rächen, weil sie seinerzeit nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Chris besuchte sie nur noch, wenn er in argen Schwierigkeiten steckte.
Die Lebensgeschichte Madeleines stimmte mich nachdenklich. Was hatte diese Frau alles durchgemacht und erduldet. Wäre doch gelacht, bekäme ich meine paar Problemchen nicht in den Griff! Liebevoll strich ich der blassen Frau über die zerzausten Haare und verabschiedete mich von ihr.
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