Zwei Wochen Klinikaufenthalt waren notwendig, danach musste Judith nur noch ambulant behandelt werden. Sie konnte es kaum erwarten, zu Sandra und Franziska in die Wohnung über der Galerie zu ziehen.
Die Operationen verliefen gut. Endlich war das Gröbste überstanden. Noch war das Gesicht geschwollen und mit Verbänden bedeckt, doch Judith war zuversichtlich und ihre Augen strahlten, als sie von Berger zu der Galerie gebracht wurde.
Die drei Frauen verstanden sich auf Anhieb blendend.
Judith entpuppte sich als gelehrige Schülerin und so hatte Franziska Zeit, sich mit ihrem Verlobten an wichtigen Anlässen zu zeigen, mehr mit ihm zusammen zu sein und endlich die Hochzeit vorzubereiten.
Dr. Tobias Berger war stolz auf sich. Das Gesicht der Patientin war nach ein paar Monaten wie neu. Keine Narben, welche das hübsche Bild störten.
Judith arbeitete nun voller Enthusiasmus in der Galerie und schwang auch den Pinsel, als hätte sie nie etwas anderes getan. Die Kunden gewöhnten sich rasch an die neue Freundin der Galeristin. Mit ihrer bunt gefärbten Mähne und den ausgeflippten Kleidern die sie trug, brachte sie frischen Wind in die vornehme Bude.
Und Judiths Bilder, mit frechem Malstil, fanden reißenden Absatz.
Mit stolzgeschwellter Brust führte Papa Spöndlin die schöne Braut zum Altar. Ihr blondes Haar schimmerte sanft unter dem Schleier und die blauen Augen leuchteten wie nie zuvor. Sein sehnlichster Wunsch war in Erfüllung gegangen und nicht genug, schon durfte er sich auf sein erstes Enkelkind freuen.
Die Überschreibung der Firma auf seinen Schwiegersohn war vollzogen. Die Schönheitsfarm hieß jetzt Berger-Spöndlin. Lange betrachtete Gerhard das neue Schild. Es gefiel ihm ausnehmend gut. Er war seine Verpflichtungen los, hatte jetzt alle Zeit der Welt für seine Tochter. Ging fast jeden Tag auf einen Sprung zu ihr, lernte ganz neue Seiten an ihr kennen. Sie war anschmiegsam geworden. Und häuslich. Ihre Kreativität lebte sie jetzt vor allem im Kinderzimmer aus.
Mit Tränen in den Augen schaute Großpapa Spöndlin auf das liebliche Gesicht des Säuglings in seinen Armen. Es war ein Junge. Nach ihm benannt!
»Gerhardchen«, flüsterte er, den Blick dankbar zu der Mutter wendend.
Dieses sanfte Leuchten in ihren himmelblauen Augen. Vor der Schwangerschaft lag immer leichter Hohn in ihren Seelenspiegeln. Was so ein Baby doch ausmachen kann, dachte Gerhard benommen und legte den Winzling auf die Brust der Mutter.
Er war nicht allein zu Besuch. Auf der anderen Seite des Bettes standen Tobias, der stolze Vater, Sandra Höhn und Judith Klötzli. Letztere war von Franziska als Patin des Kindes auserkoren worden.
Freudig schüttelte Spödlin der jungen Frau die Hand, zuckte überrascht zurück, als sie ihm plötzlich um den Hals fiel und schluchzte: »Papa …«
Befremdet schob er sie von sich, bemerkte, wie die Atmosphäre im Raum auf einmal durch etwas belastet war, das er nicht zu deuten vermochte.
Alle wirkten wie versteinert, senkten den Blick, während das Baby genüsslich an der Brust der Mutter nuckelte.
Mit einem Ruck hob Judith das Kinn, starrte Spöndlin sekundenlang an. Ihr hypnotischer Blick fesselte ihn, ein Ausweichen war unmöglich. Alle Kraft wich aus seinem Körper. Langsam sank er auf den Stuhl, den ihm Tobias und Sandra unterschoben.
Seinen Irrtum erkennend schlug er die Hände vor das Gesicht und stöhnte: »Warum?«
»Du hast etwas von mir verlangt, Papa, das für mich nie in Frage kam. Sandra und ich gehören zusammen, auch wenn du das nicht begreifen kannst. Mama hat mich verstanden, aber du hast ihr ja nie zugehört.«
Leise fuhr sie fort, Vater reinen Wein einzuschenken.
Judith und sie waren gleich alt und sahen sich sehr ähnlich. Die wenigen Eingriffe, die Tobias machen musste, um Spöndlin erfolgreich zu täuschen, waren Kinkerlitzchen.
Franziska und Judith lernten sich gegenseitig in- und auswendig kennen, jede beherrschte inzwischen die Rolle der anderen perfekt. Als Judiths Narben verheilt waren, fand Sandra einen Frisör, ein wahrer Künstler in seinem Fach, der die Verwandlung der beiden Frauen perfekt machte. Nun wagten sie die Probe aufs Exempel.
Papa Spöndlin bemerkte nicht, dass auf einmal eine andere Frau an Bergers Seite war und verliebt bis über beide Ohren in Tobias fiel es Judith nicht schwer, ihrer neuen Identität als Franziska gerecht zu werden.
»Mein lieber Papa, es gibt eine Möglichkeit, uns alle glücklich zu machen. Judith ist Vollwaise. Adoptiere sie, dann ist dein Traum gerettet!«
Gerhard Spöndlins Gedanken überschlugen sich. Wie war es möglich, all die Jahre so blind gewesen zu sein! Seine Frau versuchte vergeblich, ihm beizubringen, dass ihre Tochter lesbisch war. Er tat, als fiele ihm ein Zacken aus der Krone, wenn sie Recht hätte und wischte jeweils alles mit einer unmutigen Geste vom Tisch, was ihm nicht in den Kram passte. Zugehört hatte er wohl auch nie richtig. Die Zeit dazu fehlte. Prioritäten mussten gesetzt werden. Und da kam die Familie immer erst zuletzt an die Reihe.
Wankend erhob er sich, bat mit gebrochener Stimme um Bedenkzeit, schlurfte aus dem Zimmer und ging in den Park hinaus.
Wind peitschte die Wolken über den nachtblauen Himmel, fuhr durch Gerhards Kleider, zerzauste sein schütteres Haar. Als plötzlich der Mond groß und rund und grellgelb zwischen den golden glitzernden Wolkenrändern stand, durchfuhr ihn eine Erkenntnis. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er seine Aufmerksamkeit diesem Mond geschenkt. Nur an seinem persönlichen Erfolg war er interessiert gewesen. Welch ein unvergessliches Bild prägte sich ihm heute ein. Schon schoben sich wieder Wolken davor, verbannten das Licht hinter ihrer dunklen Fülle. Genau so war es ihm mit seiner Tochter gegangen. Er hatte sie immer nur flüchtig gesehen. Seine Achtsamkeit war auf andere Dinge fokussiert gewesen.
Er kam zu dem Schluss, dass die Idee seiner Tochter nichts an Genialität zu wünschen übrig ließ. Jetzt hatte er Zeit, Versäumtes nachzuholen. Und er hatte nichts dagegen, eine zweite Tochter mitsamt Enkel zu bekommen. Ein befreites Lächeln huschte über sein Gesicht.
Wie verwandelt betrat er das Zimmer, umarmte seine richtige Tochter innig, bat sie um Verzeihung, sagte vor allen anderen laut und deutlich zum ersten Mal: »Ob blond oder so grauenhaft gescheckt, ob lesbisch oder hetero, ich liebe dich, mein Kind. Ab sofort sind wir eine Familie, du, deine Sandra, Tobias Judith, der kleine Gerhard und ich!«
Ende
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