Abschied und Fahrt ins Ungewisse

Copyright Roswitha Wegmann, Autorin

 

Was ich auf den Tod nicht leiden kann, sind Abschiedszenen. Es haftet etwas so Endgültiges daran. Wer weiß denn schon, ob das Wort ›Wiedersehen‹ auch hält, was es verspricht. Das Mädchen, das sich neben mir aus dem geöffneten Zugfenster lehnt, geht mir auf die Nerven mit ihrer Unbekümmertheit. Sie neckt ihre Zwillingsschwester, die in aller Eile noch schnell ein paar Notizen auf ein Blatt Papier kritzelt, das sie gegen die Zugwand drückt. Sie hat Angst vor dieser Trennung, denn es ist die erste seit ihrer Geburt vor achtzehn Jahren. Sie, die da bleibt, ist gar nicht glücklich über den Befreiungsversuch ihrer Schwester. Doch die Erstgeborene setzt ihren Kopf durch, wie sie es immer tut; und sie, die um ein paar Minuten Jüngere, hat gelernt, nachzugeben. Das sehe ich auf den ersten Blick. Die beiden könnten zusammen verreisen, aber dann bliebe alles beim Alten.
Aus dem Augenwinkel betrachte ich die junge Frau neben mir. Abenteuerlust leuchtet aus ihren braunen Augen. Vom Perron herauf glitzern Tränen, und ein wehmütiges Lächeln versucht die Trauer zu bemänteln. Sie ist tapfer, doch ihre Gefühle kann sie nicht verbergen.
In vier Wochen bin ich doch wieder da!, höre ich. Meine Frau sagte genau dasselbe, doch es war gelogen. Ich verstehe die Kleine gut. Ihre Angst vor dem Alleinsein steht ihr ins Gesicht geschrieben. Mir ging es genauso, als ich den Brief bekam. Das ist nun schon ein halbes Jahr her. Zuerst freute ich mich, denn ich weiß, dass meine Frau nicht gerne schreibt. Ein Gefühl der Wärme durchflutete mich, während ich das Couvert aufriss und den Bogen mit ungeschickten Fingern herausnestelte. Gemütlich setzte ich mich in den bequemen Ohrensessel, entfaltete erwartungsvoll das Blatt.
Sie hat nicht viel geschrieben, doch was sie schrieb, zerstörte in mir etwas, das ich nicht mit einem Wort benennen kann. Es war wie ein wuchtiger Schlag auf den Kopf. Wie kann ein Mensch so naiv und blind sein … Jahrelang glaubte ich, unsere Ehe sei etwas ganz Besonderes. Jeden Wunsch las ich ihr von den schönen Augen ab, verwöhnte und verhätschelte sie.
Was hat sie nur für ein hinterhältiges Spiel mit mir getrieben!

Langsam rollt der Zug an.
Mir winkt niemand; trotzdem bleibe ich noch stehen, sehe, wie sie kleiner und kleiner wird, die Zurückbleibende. Ich helfe der jungen Frau, die schwere Scheibe hochzuschieben und setze mich in meine Ecke.
Mit einem erleichterten Seufzer lässt sie sich auf den Sitz fallen und sagt: »Das war meine Zwillingsschwester!«
»Ach, was Sie nicht sagen! Da wäre ich nie draufgekommen!«, versuche ich zu scherzen.
Irritiert schaut sie mich an.
»Sie sind jetzt auch der Erste, der das nicht sieht. Wir sind eineiige Zwillinge, und nicht einmal unsere Eltern können uns auf Anhieb unterscheiden, wenn wir gleich gekleidet sind!«
Der Vorwurf in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Ich habe sie gekränkt.
»Ja, ja, verzeihen Sie! Ich wollte Sie nicht verletzen. Es war wohl ein schlechter Spaß, den ich mir erlaubt habe.«
Zerknirscht lege ich die Hände zwischen die Knie, schaue meine blank polierten Schuhspitzen an. Ich habe sie immer selber geputzt. Die gepflegten Hände meiner Frau eigneten sich nicht für solch niedere Dienste. Auch das teure Leder ihrer Schuhe habe ich gepflegt. Sie liebte den Luxus, und ich gab ihr alles, was in meiner Macht stand. Es war nicht genug. Der Andere ist reicher. Am meisten wurmt mich, dass sie ihn schon lange kennt und ich nichts, aber auch rein gar nichts davon bemerkt habe. Mir kommt heute noch die Galle hoch, wenn ich daran denke, wie sie mich ausgenützt und betrogen hat. Von Anfang an machte sie mir etwas vor. Wie nett sie doch heucheln konnte, wenn sie etwas wollte.
Meine Liebe zu ihr hat sie mit Füßen getreten.

War es denn wirklich Liebe? War ich ihr nicht einfach hörig? Dieser Brief von ihr öffnete mir auf einen Schlag die Augen.
Sie ist eine raffgierige Schlange. Wieso kann ich nicht einfach froh sein, dieses falsche Luder los zu sein? Mein Stolz ist verletzt. Das ist der wunde Punkt. Wer wird schon gerne auf so perfide Art an der Nase herumgeführt.
Nimm’s doch nicht so persönlich, riet mir mein Freund, das passiert doch jeden Tag irgendwem.
Was weiß der schon. Wie kann ich ignorieren, was mir selber, höchstpersönlich, passiert ist? Ich bin doch ganz direkt davon betroffen, und ich leide darunter. Wie hätte er wohl reagiert, wenn ihm seine Frau plötzlich davongelaufen wäre? Aber die tut so etwas nicht. Der kann gut reden, bei ihm herrscht die reinste Harmonie!
Bin ich eifersüchtig auf sein beständiges Glück?
Nein, nicht wirklich; ich gönne es den beiden.

Ich war einfach verblendet, spürte die klaffende Schlucht zwischen uns nicht, wollte sie nicht sehen. Doch in mir gären Hassgefühle, die mir die Sinne vernebeln. Ungeschoren kommt sie mir nicht davon. Ich habe mich nicht abgerackert, um dann am leeren Daumen zu saugen. Warum hat sie so lange gewartet? Vielleicht war der Neue nicht so leicht zu bezirzen wie ich damals. Ich war ja sofort hin und weg, kaum dass sie mir unter die Augen kam. Meine Güte, war ich einfältig! Aber wer ist schon gerne allein. Sie gab meinem Leben wieder einen Sinn, brachte Farbe in den tristen Alltag, den ich als Witwer fristete. Ihre Gesellschaft tat mir gut. Ich habe die Zeit genossen, da muss ich ehrlich sein, auch wenn ich um Zuneigung und Zärtlichkeit geradezu betteln musste. Jede Streicheleinheit kostete mich schier ein Vermögen. Sie verstand es blendend, mich um den Finger zu wickeln. Alles, was sie mir bot, war neu für mich. Ich war verrückt nach ihr. Bin ich es noch immer? Die Demütigung sitzt tief, und trotzdem bleibt ein Anflug von Bewunderung für dieses egozentrische Wesen in mir haften. Ich fühle mich unheimlich leer, verletzt, beleidigt, gebrochen. Sie ist zu weit gegangen.
Ich werde mich rächen!
»Ist Ihnen nicht gut? Möchten Sie einen Schluck Tee? Da, nehmen Sie!«
Ich musste gestöhnt haben, als ich mich gedankenverloren zurücklehnte.
»Oh, danke! Ich habe nur über etwas Unerfreuliches nachgedacht, das ist alles.« Höflicherweise nehme ich den Becher und trinke ihn aus.
»Sehr erfrischend! Haben Sie den Tee selber gebraut?«
»Nein. Fürsorglich, wie meine Schwester ist, hat sie ihn für mich zubereitet. Ach, sie ist eine wahre Klette! Ich bin total happy, einmal ohne sie eine Reise machen zu können.« Sie beugt sich vor. »Die dumme Gans hat Angst, ich könnte nicht zurückkehren!«
»Ja, ja, so was soll’s geben!«
»Ach, Blödsinn! Ohne sie bin ich doch aufgeschmissen! Jedenfalls, was den gewöhnlichen Alltag angeht. Aber eine Pause wird uns beiden nicht schaden, schließlich möchte ich trotz allem irgendwann selbstständig werden.«
Wahrscheinlich hat sie Recht. Jeder Mensch sollte in der Lage sein, auf eigenen Füssen zu stehen. Diese Fähigkeit besitze ich, was den Unterhalt, die Arbeit, angeht. Meine Seele aber lechzt nach Zweisamkeit.
»Wissen Sie, was mir an Ihnen nicht gefällt?«
»Nein, was denn?«, frage ich überrascht.
»Sie blasen Trübsal!«
»Mhm, jaja, kann schon sein.«
»Mhm, jaja, kann schon sein ...«, äfft sie mich nach.
»Eigentlich sind Sie eine freche, kleine Wanze! Vielleicht wäre es ihrer Schwester ganz recht, wenn Sie dorthin gingen, wo der Pfeffer wächst. Sie getraut sich nur nicht, es Ihnen zu sagen!«, kontere ich boshaft.
»Aha! Jetzt sind Sie aber aufgewacht. Total lässig, wie Sie streiten können, echt klasse!«
»Haltla! Wer streitet denn da?! Lassen Sie mich doch einfach in Ruhe!«
»Affengeil, wie er sich aufregt!«, ruft sie bewundernd.
»Sie haben wohl schon vergessen, dass Ihr Zwilling nicht dabei ist! Sie hätten zu Hause bleiben sollen.« Mein ärgerliches Brummen stachelt sie erst richtig an.
»So ist es recht! Lassen Sie Ihren Frust raus, sonst bekommen Sie einen Kropf! Ich bin sicher, dass wir uns prächtig verstehen könnten. Vielleicht verraten Sie mir, was Ihnen so mächtig auf den Zeiger geht, dass Sie so grantig sind?«
»Wie bitte?«
»Ach, tun Sie doch nicht so, als ob Sie von gestern wären, Sie verstehen mich schon.«
Entschlossen kneife ich die Lippen zusammen und schaue zum Fenster hinaus. Ich stelle mir vor, dass der Zug steht und die Landschaft an uns vorbeirast. Dieser absurde Gedanke lenkt mich für einen Moment ab. Die Bäume klammern sich in der Erde fest und reißen die ganze Gegend mit sich. Da! Ein Kirchturm flitzt vorüber, und am krähenden Hahn auf der Spitze ist eine Wolke aufgespießt, weht wie eine Fahne hinterher. Ratternd schießt ein Gartenzaun vorbei. Baff! Der Zaun ist weg. Felder gleißen im Sonnenlicht, sanftgrün, blassgelb, violett ...

»Sie sehen aus, als ob Ihnen die Frau davongelaufen wäre.«
Diesen lapidaren Satz sagt sie so dahin, um mich aus der Reserve zu locken. Sie kann ja nicht wissen, wie treffend diese Bemerkung ist. Natürlich zucke ich zusammen, schaue sie entgeistert an. Sie merkt sofort, dass sie etwas Dummes gesagt hat, übergeht den heiklen Moment, indem sie das Feuerzeug fallen lässt und es umständlich vom Boden aufklaubt.
»Übrigens, ich heiße Marlene - und Sie?«
Immer noch starre ich sie an, mit offenem Mund.
»Machen Sie die Klappe zu, es zieht!«
Es hat keinen Sinn, auch ihr bin ich hilflos ausgeliefert. Halb stotternd und nun völlig in mein Schicksal ergeben, sage ich: »Be-Bernhard.«
»Freut mich, Benny, sagen wir DU, oder?«
Ist doch sowieso schon alles egal, Hauptsache, sie hat ihren Willen und Spaß.
»Angenehm, gut, ja also, freut mich, Marlene!«
Benny sagt sie zu mir, ganz spontan. Irgendwie entspannt mich das. Sie ist so natürlich, quicklebendig und erfrischend, diese Marlene. So eine Tochter hätte ich gerne gehabt, aber meine erste Frau starb, bevor wir uns diesen Wunsch erfüllen konnten. Ich war ein gebrochener Mann, seuchte mich mühsam durch das sinnlos gewordene Leben. Lange konnte ich nicht begreifen, warum gerade meine Frau einem Krebsleiden erliegen musste. Monatelang weigerte ich mich, der Tatsache ins Auge zu sehen, deckte den Tisch für zwei, führte einseitige Gespräche, bis ich eines Tages glaubte, eine Antwort in mir drinnen zu hören.
›Mein Geliebter‹, flüsterte es in mir, ›deine Treue macht mich unsäglich glücklich. Ich wollte dich nicht allein lassen, doch es war Zeit für mich zu gehen. Immer werde ich ein Teil von dir sein, doch du bist jetzt frei. Trauere mir nicht länger nach, genieße das Leben, finde eine neue Liebe und werde glücklich.‹
Vorerst stürzte ich mich erst recht in die Arbeit, war erfolgreich und unglücklich.
Und dann trat SIE in mein Leben, riss mir den Trauerflor von den Augen, setzte mir eine rosarote Brille auf.
»... beendet habe, bringe ich alles meiner Schwester bei.«
»Was bringst du deiner Schwester bei?«
»Na eben alles, was ich im Computerkurs gelernt habe!«
»Oh, du hast einen Computerkurs gemacht!«
»Du hast mir ja gar nicht zugehört! Pass auf, Benny! Ich bin jetzt auf dem Weg zu diesem Kurs, gecheckt?!«
So geht das die ganze Fahrt lang. Marlene quasselt mir die Ohren voll, zwingt mich von meinen schwarzen Gedanken weg. Langsam beginne ich die Unterhaltung zu genießen, fühle mich bald frei und unbeschwert.

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Fortsetzung –––>>>>