Erneut zieht es mich zu diesem Haus hin. Beobachtend liege ich auf der Lauer. Neugierige Blicke von der Nachbarschaft sind nicht zu befürchten, die Distanz ist zu groß. Diesmal pirsche ich mich so nahe heran, dass ich fast überall hineinschauen kann.
Zweifellos ist sie hübsch, geradezu schön könnte man sagen. Sie sieht viel jünger aus, als sie in Wahrheit ist. Außerdem verfügt sie über eine sagenhaft erotische Ausstrahlung, die jeden normal veranlagten Mann schwach macht. Kein Wunder also, dass auch der junge Schnösel auf sie ›abfährt‹. Er scheint ein verwöhnter Bengel zu sein, der seinen alten Herrn die Kohlen scheffeln lässt.
Auch meine Frau versteht es blendend, alle für sich rennen zu lassen; sie ist in guter Gesellschaft mit dem Sohn, der keinen Finger krumm macht für den Unterhalt. Wahrscheinlich studiert er gelegentlich, wenn der Alte motzt. Das ist ja jetzt modern, dass die Jungen bis dreißig die Schulbank drücken.
Ich bin so vertieft beim Spionieren, dass ich erschreckt zusammenzucke und einen Laut von mir gebe, als mir eine Katze um die Beine streicht. Der junge Mann dreht den Kopf, schaut mich direkt an. Das glaube ich wenigstens und bin ganz starr vor Angst. Das fehlte mir noch, wenn ich erwischt würde!
Er hat mich nicht gesehen!
Erleichtert atme ich ganz sachte aus. Für heute räume ich das Feld. Meine Nerven sind genug strapaziert, es hat keinen Wert, die Sache auf die Spitze zu treiben. Außerdem komme ich mir schäbig vor.
Ich bin ein Voyeur!
Wie konnte ich nur so tief sinken. Mein Selbstwertgefühl ist auf dem Nullpunkt. Was bringt es mir eigentlich, meine Frau mit diesem jungen Potenzbrocken in wilder Umarmung zu sehen? Es tut weh, wühlt mich auf, schürt den Hass, den ich für sie empfinde. Die infamen Lügen, die sie mir auftischte, habe ich inzwischen durchschaut. Im Vergleich verläuft die sexuelle Betätigung mit dem alten Geldsack routiniert, ohne besondere Schnörkel. Fantasielos möchte ich nicht sagen; sie ist raffiniert, weiß genau, wie er es braucht. Das hat sie bei mir auch gewusst, und ich war ihr hörig.
Die Bedeutung des Wortes Vernunft existierte nicht mehr.
Bin ich denn jetzt vernünftig?!

Je mehr ich mir das Gesehene vergegenwärtige, desto verbiesterter werde ich. Meine Schritte werden schwerer. Mit gesenktem Haupt und hochgezogenen Schultern stampfe ich stadteinwärts, ohne meine Umgebung wahrzunehmen. Mit jedem Schritt steigert sich meine hilflose Wut.
Wut auf SIE, auf mich, auf die ganze Welt.
Sogar auf meine erste Frau bin ich wütend. Ja, sie ist an allem schuld. Warum musste sie sich davonschleichen, einfach sterben, mich zurücklassen. Sie gab mir den Impuls, mich neu zu orientieren. Sie flüsterte mir aus der Geisteswelt zu, ich sei frei, suggerierte mir, mich neu zu binden.
Oh, du meine einzig wahre Liebe, verzeih mir! Ich bin ein armer Irrer, der dir die Verantwortung für meine Fehler zuschieben will. Ich bin der hinterletzte Volltrottel ...
»Aua! Können Sie nicht aufpassen, Sie Rüpel?!«
»Verzeihung!« Ohne aufzublicken brumme ich die Entschuldigung vor mich hin. Ich will jetzt nicht den Faden verlieren, muss Klarheit in meine konfusen Gedanken bringen.
»Oh! Hey! He du, so warte doch, du Träumer! - Ciao Benny!«
Atemlos steht sie vor mir. Ihr fröhliches Grinsen erreicht meine Sinne, verscheucht den verworrenen Klumpen in meinem Denkapparat.
»Marlene! Was für ein Zufall.«
Sie hat den Zusammenstoß schon vergessen, erzählt begeistert von ihrem Computerkurs, zerrt mich einfach in ein Beizchen, wo wir alsbald unbeschwert plaudern und uns köstlich amüsieren. Einem plötzlichen Einfall nachgebend, lade ich Marlene für den nächsten Abend zum Nachtessen ein. Ganz aufgeregt nimmt sie die Einladung an. Doch nun entspinnt sich eine schier endlose Diskussion über die Garderobe.
Natürlich weiß sie nicht, was sie anziehen soll. Sie hat ja auch nichts Gescheites dabei, rechnete nicht mit einer solchen Gelegenheit. Mit Diplomatie bringe ich ihr schließlich bei, dass sie auf jeden Fall reizend aussieht, dass sie sich meinetwegen nicht aufzudonnern braucht.

Beschwingt hüpft sie davon, ganz von der Vorfreude gefangen. Mir geht es genauso. Zwar hüpfe ich nicht davon, aber ich freue mich über die willkommene Abwechslung in meinem bornierten Programm, das ich mir selber aufgebrummt habe. So geht es sowieso nicht weiter. Ich muss Nägel mit Köpfen machen oder den Rachefeldzug vergessen. Das kann ich aber nicht.
Ich will sie tot sehen.
Diese fixe Idee nistet sich immer behäbiger in meinen Kopf. Grausige Träume halten mich die ganze Nacht auf Trab. Irgendwie bringe ich danach den Tag hinter mich, weiß gar nicht, wo ich überall gewesen bin. Auf jeden Fall vermied ich geflissentlich, den üblichen Weg einzuschlagen.
Da habe ich mir nun extra einen Monat Ferien genommen, um Tabula rasa zu machen. Und was habe ich erreicht? Fast zwei Wochen sind vorbei, und mein Problem hat sich keinen Deut verändert. Heute will ich nicht mehr daran denken. Abschalten, entspannen; ich muss fit sein für die kleine Quasseltante, sonst macht sie mir wieder Vorwürfe von wegen nicht zuhören und so.

Immer noch nicht müde? Dann auf zum nächsten Abschnitt:

Fortsetzung –––>>>>