Ich dusche ausgiebig, nehme mir viel Zeit für die Rasur, kämme mich ordentlich und kleide mich sorgfältig an. Schließlich möchte ich bei der jungen Maid einen guten Eindruck hinterlassen. Ich fühle mich sowieso gebauchpinselt, dass sie mit mir speisen will. Als ich in die Hotelhalle komme, ist Marlene schon da. Verstohlen schaue ich auf die Uhr.

»Hallo, Benny! Ich weiß, ich bin zu früh, aber mit dem nächsten Bus wäre ich zu spät gekommen, und da dachte ich ...«
»Schon gut, schon gut! Hast du lange gewartet? Guten Abend, Marlene! Schön, dass du gekommen bist.«
»Nein, nein, zehn Minuten etwa, und wenn ich sage, ich komme, dann komme ich auch!«
Mein Blick schweift über ihre grazile Figur, die lockigen, seidig glänzenden Haare, das frische, dezent geschminkte Gesicht. Bevor sie sich selber mies machen kann, sage ich: »Du siehst hübsch aus! Es ist mir eine Ehre, mit dir den Abend zu verbringen!«
Errötend senkt sie die Lider, haucht »danke« und beißt sich verlegen auf die Unterlippe. Für eine Sekunde weide ich mich an diesem unverdorbenen Bild der Jugend.
»Hör auf, es gibt ja gleich `was zu futtern.«
Ihre schimmernden Lippen verziehen sich zu einem anmutigen Lächeln.
Sie hat sich gefangen.
»Ich habe hier im Hotel einen Tisch reserviert. Die Atmosphäre ist sehr gemütlich und nebenan gibt es sogar eine kleine Bar mit Dancing, wo wir später eventuell das Tanzbein schwingen können. Oder ist dir das zu altmodisch?«
»Aber nein! Ich schwofe ganz gern. Aber so `nen Scheißkram wie Tango oder Walzer kann ich nicht, das sage ich dir gleich!«
Scheißkram! Hoffentlich spielen die etwas, was dem Wildfang passt, sonst komme ich flach `raus! Und hoffentlich kann ich dann mithalten, falls die Band echt schräge Musik bringt! Na ja, so weit ist es noch nicht.

Marlene hängt sich in meinen dargebotenen Arm ein, und so schreiten wir mit irgendwie euphorischem Gefühl in der Magengrube auf den Tisch zu, den uns der Kellner anweist. Wir lassen uns Zeit für die Auswahl des Menus. Marlene liest mir die ganze Karte vor, witzelt über die spitzfindigen Bezeichnungen der Speisen und mosert ganz schön, als ich für sie nur Mineralwasser bestelle. Sie sei alt genug für ein Glas Wein, werde sich nicht gleich sinnlos besaufen, falls ich das befürchte. Ich lasse mich nicht darauf ein, habe meine Prinzipien! Damit die Kirche im Dorf bleibt, raune ich dem Kellner zu, den Wein für mich zu streichen. So ein Naturwasserabend kann auch mir nicht schaden, im Gegenteil. Es ist ganz gut, wenn ich einen absolut klaren Kopf behalte. Mit meinem angeknacksten Nervenkostüm heißt es nicht zu spaßen. Wie schnell könnte ich die Kontrolle verlieren und mich womöglich lächerlich machen. Oder, was noch viel schlimmer wäre, ich könnte aus der Schule plaudern, mein Geheimnis verraten, auf das Marlene so scharf ist! Nein, nein, Vorsicht ist die Mutter der Weisheit. Es ist zwar ein altes Sprichwort, aber es zählt immer noch.
Trotz des kleinen Disputs wegen dem Alkohol wird der Abend so richtig angenehm. Das Essen ist vorzüglich, schmeckt auch ohne Wein ganz hervorragend. Als wir das Dessert verschlungen haben, weiß ich Marlenes Familiengeschichte in- und auswendig. Ihr geht langsam die Luft aus. Jetzt wird es kritisch, denn sie beginnt mich mit Fragen zu löchern, auf die ich keine Antwort geben mag.
Ich lasse mir die Rechnung bringen, rette mich für ein paar Minuten auf die Toilette, bezahle, trinke den Kaffee aus. Natürlich bleibe ich Marlene keine Antwort schuldig, sonst bohrt sie gnadenlos weiter. Um nicht lügen zu müssen, erzähle ich ihr von meiner ersten Ehe. Da war die Welt für mich noch in Ordnung. Doch Marlene spürt instinktiv, dass irgendwo noch ein dicker Hund begraben sein muss. Denn was ich ihr erzähle, rechtfertigt meine depressive Stimmung nicht, in der sie mich kennen lernte.
»Sie ist tot ...«, murmle ich traurig, und ziehe damit einen Schlussstrich unter die quälende Fragerei. Marlene ist sehr betrübt, will natürlich wissen, woran sie gestorben ist. Auch das sage ich ihr noch, damit sie endlich aufhört. Nachdem sie nun die ganze Wahrheit, wie sie meint, aus mir herausgeholt hat, gibt sie sich alle Mühe, mich aufzubauen. Ich bekomme fast ein schlechtes Gewissen, weil ich ihr den aktuellen Grund meines seelischen Zustandes verschweigen muss. Ich darf sie da nicht hineinziehen. Wie würde sie reagieren, wenn sie meine schwarzen Gedanken wüsste? Zum Glück steht mir meine Mordlust nicht ins Gesicht geschrieben!

Wir dislozieren in das angrenzende Dancing, ergattern einen Platz in der Nähe der Band. Es ist ziemlich laut, doch das stört Marlene nicht. Mir kommt der Krach sogar gelegen, denn an eine Unterhaltung ist dabei nicht zu denken. Kaum steht die Cola auf dem Tisch, schleift sie mich auf die Tanzfläche. Ich halte erstaunlich gut mit, mache ihre Verrenkungen nach, so gut es eben geht. Marlene ist zufrieden mit mir.
Also, kurz gesagt, es ist ein toller Abend. Nur leider geht die Zeit zu schnell vorbei. Es ist höchste Eisenbahn, die Kleine in ihr Wohnheim zu bringen. Zuerst sträubt sie sich ganz schön, doch es ist schon fast Mitternacht, und sie sieht ein, dass irgendwann Schluss sein muss.
»Und irgendwann ist jetzt!«, sage ich mit Grabesstimme.
»Ja, aber morgen ist Samstag. Ich habe frei. Nur noch ein klitzekleines Stündchen, Benny, bitte, bitte!«
Ich gebe nicht nach, obwohl sie ein wenig schmollt. Der Barkeeper gibt mir ein Zeichen; das Taxi ist da.

Auf dem Heimweg fragte sie mich, was ich am Samstag vorhabe. Ich wusste es nicht. Aber jetzt weiß ich es! Als ich nach einer plausiblen Antwort suchte, hat sie mich verplant, bevor mir etwas einfiel.
Marlene will mit mir am See ein Picknick veranstalten. Am Samstag ist Großeinkauf und ich muss mit, damit der Korb mit den richtigen Sachen gefüllt wird. Sie hat gesagt, dass sie sonst nur mit ihrer Zwillingsschwester einkaufen geht. Deshalb fühlt sie sich jetzt, wo es drauf ankommt, zu unsicher, alles alleine zu entscheiden.
Ich bin und bleibe ein Jasager! Aber wieso ich gerade bei Marlene mit dem Nein sagen beginnen soll, sehe ich nun wirklich nicht ein. Sie ist doch ein so liebes Geschöpf; fast zu vertrauensselig. Das Verrückte ist, dass ich mich verantwortlich für sie fühle, als ob ich ihr Vater wäre! Das mag übertrieben klingen, aber diese Vorstellung macht mich unheimlich glücklich. Für ein paar Stunden habe ich eine Tochter!

Ich weiß nicht, weshalb Marlene sich ausgerechnet an mich hängt. Vielleicht gebe ich ihr ein Gefühl von Sicherheit, das sie jetzt braucht, wo sie alleine in einer fremden Stadt ist. Die anderen Kursteilnehmer sind offenbar alles doofe Typen ohne Grips. Eigenartigerweise ist sie die einzige Frau in dieser Gruppe. Ich kann mir gut vorstellen, dass Marlene in einer schwierigen Position ist. Sie weicht den Anmachern geschickt aus, indem sie jeden privaten Kontakt meidet. Wahrscheinlich stehe ich für sie jenseits von gut und böse, als ob ich androgyn wäre; wie ein netter Onkel. Sie hat Glück, denn ich könnte ihr Vertrauen nie missbrauchen.
Bei diesem Gedankengang kommt eine Erinnerung siedend heiß in mir hoch. Etwa ein Jahr bevor meine Frau mich buchstäblich von einem Tag auf den anderen einfach hocken ließ, besaß sie die Frechheit, mir Unzucht mit Minderjährigen vorzuwerfen. Diese Gemeinheit dachte sie sich aus, weil ich ihr Konto sperren ließ. Meine Frau warf derart mit dem Geld um sich, dass mir keine andere Lösung einfiel. Alle Gespräche, die ich mit ihr über dieses Problem führte, fruchteten nichts. Als der Geldhahn zugedreht war, rastete sie aus. Meine Frau heuerte ein paar Kinder aus der Nachbarschaft an, die behaupten sollten, ich hätte Sauereien mit ihnen getrieben. Diese erpresserische Farce entblößte ihren wahren Charakter. Ich war mehr erstaunt, als entsetzt.
Nun rechnete meine Frau aber nicht mit der Cleverness der Kids, die das Geld, das sie ihnen für das Lügen gab, annahmen, den Schuss aber, der mich treffen sollte, nach hinten losgehen ließen.
Schlussendlich stand sie selbst am Pranger!
Aus lauter Langeweile hatten sich die Kids nämlich ein Detektivspiel ausgedacht. Sie suchten sich ein Opfer, das dann gründlich bespitzelt wurde. So fanden sie heraus, dass meine Frau, während ich nichts ahnend meiner Arbeit nachging, einen Lover in unserem Haus empfing. Sie brauchte keine Angst zu haben, von mir erwischt zu werden. Obwohl die Firma mir gehört, legte und lege ich Wert auf eine geregelte Arbeitszeit.


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Fortsetzung –––>>>>