Reportage 11: Donnerstag, 3. November

 Eigentlich wollte ich zur Trittligasse, doch dann hätte ich es nicht geschafft, um halb elf im Chrischtehüsli zu sein, also ließ ich diesen Plan fallen. Die vielen Schaufenster mit den reichhaltigen Angeboten betrachtend, ging ich die Bahnhofstraße entlang, schwenkte bald nach rechts ab. Auf einer Bank saß ein älteres Paar, ihre Habseligkeiten in Plastiksäcken neben sich. Beide hingen ihren Gedanken nach. In der dichten Hecke hinter ihnen gaben Spatzen ein Zwitscherkonzert. Ein gut gekleideter Mann kam mir entgegen. Er redete, als gehe er mit einem guten Freund neben sich, doch war er allein.

xxx Die breit angelegten Sitztreppen beim Theater an der Sihl waren noch leer. Vis-à-vis hingen die Äste eines riesigen Ahornbaumes über die steile Böschung fast bis ins träge dahin fließende Wasser. In Wahrheit waren es zwei Dreiergruppen Bäume, die sich für das Auge zu einem einzigen Mammutbaum gesammelt hatten. Wenige  Blätter waren noch grün, die herbstlichen Farben braun und gelb überwogen. Rund um die dicken, wunderschön gemusterten behäbigen Stämme lag das abgefallene Laub wie ein dicker, luftiger Teppich.
Laubhaufen – Airbrush

Ein runder Betonbrunnen, einem eleganten Rotweinglas gleich geformt, lädt Durstige zum Trinken ein. Der ewig sprudelnde Strahl glitzerte in der Sonne wie ein Regenbogen.  Ein Hund sprang hoch, labte sich am Wasser.

An der Zeughausstraße begegnete ich einer Frau, die in ein lautes Selbstgespräch vertieft war. Ihr Einkaufswägelchen hinter sich herziehend, ließ sie den sie bewegenden Gedanken freien Lauf, mit der freien Hand gestikulierend die gesprochenen Worte bekräftigend.
Die Kastanienbäume in der Grünanlage sahen verhutzelt wie Hühner in der Mauser aus. Ich bog in den »Alki-Park« ein. Ein freundlich gesinnter Polizist  unterhielt sich mit den Stammgästen am Jasstisch. Allen einen guten Morgen wünschend, streichelte ich das schwarzweiße Mops-Hündchen auf der Bank neben einer mir vom Sehen bekannten alkoholsüchtigen Frau.

An der Zwinglistraße standen Abfallsäcke an den Hausmauern. Darum herum lag Müll. Die Straße machte heute einen sehr unordentlichen Eindruck. Einige Parkplätze waren mit Schuttmulden belegt. Da und dort wird umgebaut oder renoviert.
Um halb elf betrat ich die gute Stube vom Chrischtehüsli. Etwa zwölf Betreuer und Betreuerinnen kümmerten sich um einige Süchtige. Fabian ließ mich zwischen Gassenarbeit und Küchendienst wählen. Da das Rauchen auf der Straße von den Betreuern nicht gerne gesehen wird, entschied ich mich für Küchendienst und kochte mit Angie und Simon das Mittagessen.
Einige Gäste waren heute ungewohnt laut. Eine Frau wurde von Visionen bedrängt und beklagte sich lauthals über die dreisten Attacken, die auf sie ausgeübt wurden. Allgemein lag eine gewisse Aggressivität in der Luft.
Fabian hielt eine sehr gute Gebetsrede, sprach über die Sucht, welche die Menschen in ihren Bann gezogen hat. Er zeigte mit gut gewählten Worten gangbare Wege auf, dem Unheil zu entrinnen.
In stoische Ruhe versunken warteten die Angesprochenen, lauerten auf den gefüllten Teller, der in die Lücke zwischen Gabel und Messer gestellt werden würde, sobald die mahnende Predigt zu Ende gesprochen war.
Von halb eins bis ein Uhr kehrte Ruhe ein. Das Mittagsmahl wurde genossen. Am Tisch im Hinterzimmer erfuhr ich, dass Franziskaner und Katholiken nicht identisch sind. Und die exakte Bezeichnung ist Heiden-Katholiken, weil diese keine Juden waren, bevor sie durch Missionare rekrutiert wurden.

Von 13-14 Uhr gibt es jeweils nichts mehr zu essen und keinen Kaffee zu trinken. Eine Regel, der ich mich nur schwer beugen konnte, hätte ich doch gerne nach dem Essen einen Kaffee gehabt. Erzürnt ob der blöden Regel, ereiferte ich mich mit den Gästen zusammen darüber und stellte die Betreuer damit bloß. Fabian zitierte mich ins Büro und erklärte mir, dass die Küchencrew einmal eine Pause benötige, um wenigstens in Ruhe den Abwasch bewältigen zu können. Er gab zu, am Anfang auch Mühe gehabt zu haben, auf den Kaffee nach dem Essen zu verzichten, aber die Regel habe tatsächlich einen triftigen Grund, um die Mitarbeiter zu schützen, welche durch das dauernde Begehren der Gäste nach irgendetwas an ihre Grenzen stoßen würden. Meine offen bekundete Solidarität mit den Süchtigen sei verletzend für ihn und die Mitarbeiter. Kleinlaut gab ich zu, überreagiert zu haben und zeigte mich einsichtig. Seine dunklen Augen waren während des Gesprächs ruhig, fast zwingend auf meine Augen gerichtet. Es war gar nicht so einfach, diesem unergründlichen Blick Stand zu halten.

Auch heute betätigte sich Angie als Coiffeuse.
Angela, die Deutsche, sah vergammelt aus. Das Heroin beherrscht sie voll und ganz.
Ten kam ohne Hündchen Ismo auf einen Kaffee.
Trotz des schönen Wetters war die Bude den ganzen Tag mehr oder weniger voll.
Roni ist in der PUK gelandet. (Psychiatrische Universitätsklinik.)  Ich hoffe, er bekommt einen Platz für den Entzug.
Massimo kam mich besuchen. Er ist ein netter Kerl mit tiefem Glauben an Gott und Jesus Christus. Trotzdem unterhalte ich mich gerne mit ihm. Vielleicht kommt er einmal mit seinem Sohn mit zu den Eseln Aiko und Aisha.
Luis hat das Staub saugen übernommen. Als ich mich verabschiedete, fragte er mich nach einer Zigarette. Ich habe ihm fünf Stück gegeben. Ich mag ihn. Er hätte so viele Talente, die er zu Gunsten der Sucht völlig vernachlässigt.
Er und seine Leidensgenossen werden weiter Federn lassen.
Bis sie ganz nackt und völlig schutzlos sind.
Und dann fehlt vermutlich die Kraft, zur Besinnung zu kommen.


Federn – Airbrush


Reportage 12: Donnerstag, 10. November

 
Um 10 Uhr hat die Sonne schon ein Loch in die zähe Nebeldecke gebrannt. Am Jass-Stammtisch im Park sitzen ein paar Leute. Die Tischplatte ist mit einem Plastik fein säuberlich geschützt, zwei Aschenbecher stehen zur Verfügung. Am Abend zuvor wurde gefeiert, erzählt mir der Mann mit den Krücken. Er braucht keine harten Drogen und auch keinen Schnaps. Wenn er seine Medikamente genommen hat, reicht ein Schluck Bier, um einen Flash zu erleben. Dann aber kommt er mit den Krücken nicht mehr so gut zurecht, fällt oft hin, verletzt sich an Knien und Händen. Wenn er so weitermacht, wird er seine Krücken nie wieder los.
Ein mittelgroßer Hund namens Zwergli hockt auf der Bank und lässt sich streicheln. Von seiner hohen Warte aus beobachtet er kleinere Hunde bei der Bank nebenan, wo sich eine füllige Frau niedergelassen hat; Krücken neben sich. Die Sauferei macht Fallsüchtig …
Auf dem Tisch neben der offenen Feuerstelle stehen viele leere Bierdosen.

Viele Alkoholiker und Alkoholikerinnen haben Hunde. Das Wohl ihrer treuen Begleiter steht offensichtlich an erster Stelle. Die Hunde, die mir begegnen, sind alle gut genährt und sehen gesund aus.
Ich kann nicht anders, ich muss die Hunde alle streicheln, ein paar Worte an sie richten, erinnern sie mich doch alle an meinen Mirò, Belgischer Schäfer Groenendael, der 14 1/2 Jahre lang mein treuer Begleiter war. Im Dezember 2000 kehrte Mirò in die ewigen Jagdgründe zurück. Ich vermisse ihn immer noch.


Mirò


Heute sind wir im Chrischtehüsli zu zehnt für die Betreuung der Gäste. Mit Sr. Elisabeth und Simon koche ich das Mittagessen. Eine Unmenge Tofu ist vorhanden. Food, welche die meisten als »pfui« bezeichnen, bevor sie auch nur gekostet haben … (Zugegeben, ich würzte nicht genug, das Zeug war fad.) Dazu gibt es Teigwaren, Tomatensoße und Salat. Die Bohnen, die über Nacht hätten eingelegt werden müssen, sind erst am Nachmittag genießbar und werden dann auch nach und nach weggeputzt.

Ich habe gar nicht mitbekommen, dass ein Süchtiger namens David im Hinterhof randalierte. Die Polizei kam zum Einsatz. David blieb noch genug Zeit, sich eine Spritze zu setzen, bevor er in die Zange genommen wurde und all seine Habseligkeiten ausbreiten musste. Etwa sieben Papiertaschen wurden gründlich untersucht. Nach scheinbar unendlich langer Zeit wurde er in Handschellen in den kleinen Gefängnistransporter verfrachtet. Plötzlich gut gelaunt, dröhnte er den Fahrer mit seinem fröhlichen Gesang zu. Genervt schaltete dieser die Sirene ein, um den Häftling möglichst rasch loszuwerden.
Es war von Rückführung in den Kanton Aargau gesprochen worden, doch zwei Stunden später war David schon wieder im Hinterhof … Grinsend polterte er an die Büroscheibe, erschreckte Karenina, die fleißig am Computer arbeitete.
Ich frage mich, wozu diese aufwändige »Inhaftierungs-Aktion« gut gewesen sein soll …

Bis 14 Uhr singen auch die Christen. Schaurig schmettern sie ihre vergeistigten Lieder, untermalt von Simons zarten Gitarrenklängen und einem Jagdhorn, das Pierrino bläst und das wie die Schreie eines weidwunden Tieres klingt. Verschreckt flüchte ich und warte draußen rauchend, bis Ruhe eingekehrt ist und Kaffee getrunken werden darf.
Am Nachmittag kreieren Helfer Simon und Zivi Manuel den Chrischtehüsli-Blues! Gefühlvoll streicht der sanfte Simon über die Saiten der Gitarre und Manuel lässt sich am Klavier sogleich mitreißen, greift vehement in die Tasten. Ein Sound, der mich beflügelt. Auch Helfer Stephan, der eine leichte Sprechbehinderung hat, blüht bei diesen Klängen so richtig auf. Ich beginne im Rhythmus zu klatschen, Stephan unterstützt mich und tanzt dazu in der Stube. Seine Augen strahlen und das Lachen im Gesicht drückt Begeisterung aus.
Herrliche Momente in einem Raum, wo sonst nicht eitel Freude herrscht.

Im Hinterstübchen schlafen fünf Leute. Schon bald müssen sie geweckt werden.
Luis schleicht wie der Schatten seiner selbst umher.
Ein uniformiertes Trio, eine Polizistin und zwei Polizisten, werden zum Kaffee eingeladen. Die hübsche Polizistin trinkt nichts, sonst muss sie schon bald wieder eine Toilette suchen … Ich erzähle, dass ich vor zwei Wochen von Kollegen von ihnen auf der Langstraße gefilzt wurde. Das Trio grinst.

Heute heulen ein übers andere Mal Polizeisirenen.
Es ist immer etwas los im »Chreis Cheib« in Zürich.


Reportage 13: Donnerstag, 17. November

 Wie gerne würde ich schreiben: Die Probleme der Süchtigen haben sich in Luft aufgelöst. Alle sind zur Besinnung gekommen, haben die Kraft ihres Geistes entdeckt und sich gesund denken oder gar gesund beten können.
Dem ist leider nicht so.
Unsere Gäste drehen sich weiter im Kreis. Treten in der Mühle wacker rundherum, sind nicht in der Lage, abzuspringen. Dabei müsste jede/r Einzelne doch nur einen Moment innehalten und sie oder er würde das Türchen in die innere Freiheit entdecken.
Selten bringt einer dieser Menschen den Mut auf, seinem zwanghaften Verhalten durch den Schritt über die Schwelle in eine neue Welt ein Ende zu setzen.
Sich der Herausforderung stellen, sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen, heißt, Verantwortung übernehmen.
In der Abhängigkeit der Behörden und Helfer lässt es sich relativ einfach leben. Man kommt über die Runden. Tag für Tag. Irgendwie. Man braucht sich nicht anzustrengen. Nachdenken über den Sinn des Lebens ist überflüssig.

Heraklit, ein griechischer Philosoph aus Ephesos (540 vor Christus bis 480) soll einmal sehr treffend gesagt haben:
Alles Sein befindet sich in dauerndem Entstehen und Vergehen – panta rhei, »alles fließt«.

Es scheint, als hätte sich dieser Spruch tief im Bewusstsein der Süchtigen verankert.
Leider nicht dem wahren Sinn entsprechend.
Lässt der Mensch sich einfach von den fließenden Wellen tragen, ohne das Ruder selbst in die Hand zu nehmen, seinem Leben eine wünschenswerte Richtung zu geben, so trudelt er bald im Sog eines Strudels, der ihn erbarmungslos in die Tiefe reißt, in langsam und qualvoll ertrinken lässt.

Manch einer unserer Gäste schnappt nach Luft, nimmt die helfende Hand an, bis er wieder Grund unter den Füßen verspürt.
Doch leider bleibt er im reißenden Wasser stehen, säuft lieber wieder ab, anstatt ganz aus dem für ihn gefährlichen Strom zu steigen.
So bleibt uns nichts anderes übrig, als die Süchtigen immer wieder daran zu erinnern, dass sie eigentlich nur den Gedanken in sich keimen lassen müssten, wenigstens für 24 Stunden trocken und clean zu bleiben. Wäre dieser Gedanke kraftvoll genug, würde der Wille für dieses Vorhaben so gestärkt, dass eine Heilung möglich ist.

Ich füge einen Spruch der Anonymen Alkoholiker an, welcher meiner Ansicht nach für alle Menschen Sinn macht:

Mein Geist gebe mir –
die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen,
die ich nicht ändern kann,
den Mut,
Dinge zu ändern,
die ich ändern kann,
und die Weisheit,
das eine vom anderen zu unterscheiden.

 Ich wünsche Lesern und Leserinnen positive, lichtvolle Gedanken und schenke euch ein Lächeln.
Roswitha


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