Reportage 8: Montag, 10. Oktober

 Vom Bahnhof  spazierte ich durch die Grünanlage, wo der Zirkus Monti gastierte. Im Kasernenhof-Areal jassten zwei Männer im tief hängenden Nebel an einem Tisch. Ich wechselte ein paar Worte mit ihnen.
Rasch erreichte ich das Chrischtehüsli, äugte durch die Scheibe in die Stube, stellte fest, dass Bruder Benno fehlte; in diesem Augenblick war ich froh, ihm nicht zu begegnen. Am letzten Montag hatten wir eine Auseinandersetzung, diskutierten über das Thema Homosexualität. Wir wurden uns nicht einig. Niemand aus der Runde teilte meine Ansicht, Homos seien genau gleich viel wert wie Heteros.
Um 10.30 Uhr verkrümelte ich mich, strebte dem Kasernenpark zu, ging durch die Grünanlage  zu den beiden Jassern. Mit dem Jüngeren der beiden entwickelte sich ein gutes Gespräch. Nach einigen Tiefschlägen suchte er Trost im Alkohol; das übliche  Muster. Um die Umkehr zu schaffen, braucht er einen noch größeren Leidensdruck.
Um mich zu sammeln, wandte ich mich dem kreisrunden Garten mit einem wunderschön angelegten Kraftplatz in der Mitte zu. Esoteriker sollen sich da oft tummeln. 

Die mir bekannte magere, zahnlose Alki-Tante gesellte sich zu den Jassern. Schlecht gelaunt. Unmotiviert schrie sie ihren Frust in die kühle Luft hinaus, beschimpfte irgendwer, doch mich forderte sie sofort auf, mich auf die Bank zu setzen, als ich langsam näher kam. Mit der Bierdose in der diesigen Luft herumfuchtelnd, hin und wieder einen Schluck in sich hineinschüttend, setzte sie ihre Schimpftirade gegen nicht anwesende Widersacher fort. Sie wirkte wie ein in die Enge getriebenes Tier, das sich mit Aggressivität zu wehren versucht. Die Jasser blieben gelassen, zuckten die Schultern, kannten ihre Ausbrüche.
Bevor ich ging, massierte ich ihr den Rücken. Die unerwartete Berührung rief Emotionen in ihr hervor. Ihr Körper sank nach vorn, den Kopf vergrub sie zwischen den Knien und ich spürte, dass meine Hände ihr einerseits willkommen waren, andererseits war sie auf Abwehr eingestellt. Ein Beben ging durch den mageren Körper. In meinen Händen spürte ich den inneren lautlosen Schrei, dann gab sie sich der Zuwendung hin, richtete sich ein wenig auf. Vermutlich wurde sie lange nicht mehr so angefasst, erfuhr vielleicht nur Grobheiten.

Zweifel
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Am Nachmittag ging ich mit der 25-jährigen Praktikantin Sereina auf die Gasse und führte sie in den Park. Wir schlenderten am Restaurant Zeughaushof und dem Kunstraum Walcheturm vorbei, bewunderten den riesigen Ahornbaum, neben dem ein kleiner eingezäunter Kinderspielplatz  angelegt ist. Wir betrachteten kurz die zwei gewaltigen Skulpturen und ein paar Schritte weiter trafen wir viele Alkis und andere Besucher vom Chrischtehüsli.
Der Jasstisch war voll besetzt. Während ich mit den Randständigen und ihren Hunden keine Berührungsängste kenne, stand Sereina still und skeptisch daneben.
Später wunderte sie sich, dass die Leute nie von Gott reden und Maria-Theresia sagte, wenn sie tief genug gesunken seien, bitten sie um Gebete …, wie Roni letzten Montag, der einen Entzug machen möchte. Roni hat noch nicht ganz begriffen, dass nur er selber seinem Schicksal eine Wende geben kann, dass die Gebete nichts nützen, wenn er nur auf diese Hilfe baut und seine Gedanken in der alten Spur weiter kreisen lässt.
Ich ging mit Sereina in den Labyrinth-Garten. Schmale Kieselwege führen zwischen eng angelegten, beschrifteten Blumen- und Kräuterrabatten rundherum. In der Mitte ist ein liebevoll angelegter Kraft-Platz. Mit  Pflastersteinen wurde ein Baum geschaffen. Neben dem Stamm führt ein Labyrinthweg durch die Krone des Baumes zur Mitte und wieder zurück.
Erdovan, ein gelegentlicher Besucher vom Chrischtehüsli, war im Gärtchen und schnitt eine gelbe Rose. Ich sprach ihn an, sagte, die Rose sei wunderschön. Später schenkte er sie mir. Während Sereina und ich den herbstlichen Blütenzauber bewunderten, schnitt Erdovan eine Blume nach der anderen, reichte mir jede mit einem Lächeln, bis ein wunderschöner, buntgemischter Strauß zusammengepflückt war, den ich nach Feierabend mit nach Hause genommen habe.
Luis war heute so gut drauf, dass er das WC putzen konnte. Der oft sehr aggressive Stephan X.  wischte Zigarettenstummel vom Gehsteig und Straßenrand. Beide machten diese Arbeiten, weil sie dafür je einen Fünfliber bekommen. 

 

Reportage 9: Montag, 17. Oktober

Als ich heute die Abkürzung durch den Park nahm, begegnete ich keinem einzigen Randständigen. Zwei Leute von der sip züri saßen zusammen plaudernd in ihrem Dienstwagen:
Sicherheit Intervention Prävention
Selnaustrasse 27
8001 Zürich
Um Viertel vor zehn betrat ich die gute Stube, wo Bruder Benno mit seinem Laptop am Tisch saß, umringt von vielen Leuten, die das Frühstück einnahmen. Maria-Theresia werkelte eifrig hinter dem Tresen. Bis um halb elf ging ich ihr zur Hand, dann räumte ich das Feld, damit die Gläubigen ihre Gebetsrunde in Ruhe abhalten konnten.

Die Männer von der sip hatten sich verzogen und so traf ich einige Alkis an ihrem Stammtisch im Park. Eine Zigarettenlänge setzte ich mich zu ihnen, dann ging ich stadteinwärts zum Jelmoli, Manor und fand letztendlich im Stoffladen Modesa das Material für Brunos neue Badetasche, die er sich zu Weihnachten wünscht.
Gegen halb zwölf gesellte ich mich wieder zu den Alkis in der Grünanlage. Der flotte, dunkelhäutige Ten mit seinem Hündchen Ismo war dabei. Auch er hatte eine Bierdose in der Hand. Ten erzählte mir seine Geschichte. Er hadert mit dem Schicksal. Dreizehn Jahre war er mit seiner Freundin zusammen, mit der er gerne eine Familie gegründet hätte. Sie erkrankte an Krebs. Einige Jahre kämpfte er mit ihr zusammen gegen die Krankheit. Vor zwei Jahren wurde sie des Kämpfens müde, gab auf und starb. Ten kann es der ganzen Welt nicht verzeihen, dass seine Liebste ihn verlassen hat. Er ist verbittert, sieht ohne sie keinen Sinn mehr im Leben. Ihr Tod hat ihn völlig aus der Bahn geworfen. Obwohl er sehr tief gesunken ist, kommt er immer gepflegt daher, aber seine Gedanken verharren, sind nur noch auf die Wut, den Hass gegen die Ungerechtigkeit ausgerichtet und so findet er keinen Weg aus der Spirale der Selbstzerstörung heraus.

Mit Hündchen Ismo schlenderten wir zum Chrischtehüsli, mussten noch ein paar Minuten vor der Türe warten, bis die Gebetsstunde abgeschlossen war.
Ich half Trudi beim Kochen.
Anna und ich aßen später allein im Hinterstübchen und unterhielten uns über den Glauben. Ein ziemlich ätzendes Gespräch.
Simone kam mit ihrem etwa drei Wochen alten Baby Leonie. Luis betrachtete das winzige Wesen voller Andacht; wie wir alle auch.
Luis, Angela, Daniela 2 und ein paar andere Drögeler blieben den ganzen Tag in der Zufluchtstätte.

Am Nachmittag kamen vier Girls und befragten die Süchtigen, machten Notizen für ihre Arbeiten. Benno ging mit Sereina auf die Gasse. Mich wird er wohl nie mehr mitnehmen, weil ich seinen Glauben mit dem besten Willen nicht teilen kann.
Auch mit Rose und Massimo unterhielt ich mich über Glaubensfragen. Danach war Rose die Lust auf die abendliche Gebetsstunde vergangen und wir bereiteten gemeinsam das Nachtessen zu. Ohne Anna, die heute früher nach Hause ging.
Roni half beim Abwaschen, legte sich mächtig ins Zeug für den Fünfliber, der ihm für die Arbeit versprochen war. Eigentlich wollte er in zwei Tagen den Entzug antreten, doch muss er eine Woche warten, bis ein Platz frei wird. Ich hoffe, er steht diese Zeit durch, ohne wankelmütig zu werden und den Plan aufzugeben.
Maria-Theresia fand beim Aufräumen im »Schlafzimmer« eine Spritze. Jemand hatte gefixt, obwohl alle wissen, dass das im Chrischtehüsli streng verboten ist.

Mein vorläufig letzter Montag im Chrischtehüsli war sehr anstrengend.
Mit einer versöhnlichen Umarmung verabschiedete ich mich von Bruder Benno.


Präventionheißt......., heißt, einem Kind ein Zuhause zu geben, wo es in Sicherheit ist und keinen Hunger leiden muss.

Es darf ihm weder an Nahrung noch an Liebe fehlen.

Den meisten Randständigen fehlte es an einem Heim, das ihnen Geborgenheit vermittelte.
xxx xxx In der Entwicklungsphase eines Kindes wird die sich entfaltende Persönlichkeit durch die Umwelt und die Mitmenschen geprägt.

Das Kind braucht einen Leitfaden, der es auf einen begehbaren Pfad führt, ihm Möglichkeiten eröffnet, an einem wünschenswerten Ziel anzukommen.
No es bizzeli …
Ölbild 60x45

 

Reportage 10: Donnerstag, 27. Oktober 2005

 Unter der Woche läuft es im Chrischtehüsli anders als am Montag mit den Franziskanern.
Jede/r bekommt ein Ämtchen. Am Montag packt einfach jede/r dort an, wo Hilfe nötig ist.
Von 9 bis 10.30 Uhr wird gebetet und gesungen. Derweil schlenderte ich die Langstraße entlang, wechselte mit diesem und jenem Bekannten aus der Szene ein paar Worte. Einer wollte mir Seresta andrehen. Er brauchte Geld. Grinsend lehnte ich ab, offerierte ihm dafür eine Zigarette. Zum Glück sind die Zeiten für mich längst vorbei, da ich meine Zeit mit dem Auftreiben von irgendwelchem Stoff vertrödeln musste.
Eine Polizistin und zwei Polizisten kamen mir entgegen. Sie hielten mich an. Personenkontrolle. Die Frau streifte feine Gummihandschuhe über und filzte mich bis auf die Knochen. Sogar mein Ami-Käppi nahm sie mir vom Kopf und guckte in die Innennähte. Die Kollegen standen sichernd daneben. Als wollte ich ausbüchsen! Eine offene Zigarettenpackung Gauloises untersuchte sie akribisch, sonst fand die Beamtin nichts, was ihr Misstrauen erhärtet hätte. So stand ich denn ein paar Minuten nach der überaus gründlichen Durch- und Untersuchung allein an der Ecke, mein gesamtes mitgebrachtes Hab und Gut vor mir auf dem Gehsteig verteilt. 

Nach einem Kaffe in der guten Stube wurde ich Pierrino für die Gassenarbeit zugeteilt. Um elf machten wir uns auf den Weg zum Limmatplatz. Beim Kiosk und der Tramhaltestelle verweilen oft Randständige, die sich auch gerne auf einen Schwatz einlassen, ihre Sorgen ausbreiten und über ihren Kummer reden.
Ich wurde von Pierrino schroff angemotzt, weil ich geraucht hatte. Eigentlich muss ich es ihm hoch anrechnen, dass er mich fertig rauchen ließ, bevor er mich zurechtwies :-)
Einige von diesen Leuten zeichnet ein tiefer Glaube an Gott aus. Trotzdem sind sie nicht in der Lage, ihre Probleme in den Griff zu bekommen.
Irgendwann werden diese Menschen vielleicht lernen, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Irgendwann werden diese Menschen vielleicht merken, dass nur sie selber ihr eigenes Schicksal lenken können.
Die unheimliche Macht der eigenen Gedanken wird meistens falsch eingeschätzt oder gar nicht wahrgenommen. Dabei sind es gerade diese Gedanken, die dem Menschen den Weg ebnen oder zuschütten.
Man/frau denkt – also IST  man/frau.
Basta.

Um halb eins waren wir zurück. Nach einer langen religiösen Geschichte, von Karenina vorgelesen, durften wir das feine Mahl genießen, das Angie zubereitet hatte.
Mariette, Florian, Stephan, Manuel, Emmanuel, Martin und Vittorio sind heute auch im Einsatz gewesen. Erfrischend war die Unterhaltung mit Martin. Er ist wahrlich kein Blindgänger, geht mit offenen Sinnen durchs Leben. Mit ihm zu philosophieren ist eine wahre
Freude.
Am Nachmittag betätigte sich Angie, die Vielseitige, als Coiffeuse für einige Gäste, die für die willkommene Prozedur ihren Schlaf im Hinterzimmer unterbrachen.
Ich war so dumm, mich erneut auf eine Diskussion über Homosexualität einzulassen. Die Christen haben eine sonderbare Einstellung gegenüber ein wenig anders gearteten Menschen, finde ich.
Doch auch Christen geraten hin und wieder in Gewissens-Konflikte, denn wortgetreu nach der Bibel zu leben ist offenbar doch nicht jedem gegeben. Manchmal ist sogar der Gläubigste überfordert und schummelt sich dann irgendwie durch, wenn es allzu brenzlig wird.

Ich habe erkannt, dass es auch unter den Christen sehr »menschelt« und mag deshalb jede/n Einzelne/n der Betreuer und Betreuerinnen vom Chrischtehüsli sowie die Süchtigen, für die wir da sind, sehr gerne.

Ich bin Realistin, lebe im Hier und Jetzt.
Mein Motto heißt: Leben und leben lassen.
Wie schon erwähnt: Ich bin alles andere als perfekt, nur ein Mensch unter Menschen.
Eure Roswitha




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