Reportage 4: Montag, 12. September

Zitat von Billy:
Der Mensch muss die Hölle erleben, um den Himmel verstehen zu können.


xxx Sein Verhalten wirkt autistisch.
Es verwundert, dass er Bedürfnisse wie Durst und Hunger empfindet.
Diese Bedürfnisse befriedigt, um danach wieder völlig in seine eigene Welt abzutauchen.
Unerreichbar für Worte aus der alltäglichen Wirklichkeit.


Dieses Aquarell-Bild in Postkartengröße habe ich aus der Erinnerung an meinen ersten Chrischtehüsli-Montag gemalt.


Zitat von Billy:
Mensch in Wahrheit und Weisheit ist nur der,
der echte Liebe lohnlos als Liebe zu verschenken vermag.


Im Chrischtehüsli wird diese Liebe praktiziert und von den Randständigen angenommen, weil kein Druck auf sie ausgeübt wird. Wenn auch nicht viele von ihnen den Weg aus der Dunkelheit ins Licht finden, lohnt es sich trotzdem, unverdrossen weiterzumachen und für diese Menschen da zu sein.


Um Viertel vor zehn war die Bude schon voll. Schwierig, die besinnliche Stunde von halb elf bis halb zwölf durchzusetzen.
Heftige Diskussion zwischen Bruder Benno und mir über Alkoholismus.
Benno denkt, habe ein Alki den Weg zu Gott gefunden, sei er in der Lage, nach der Entgiftung wieder »ganz normal« Alkohol zu trinken.
Das so genannt normale Trinken mag in ganz seltenen Fällen nach einem Entzug zutreffen, wobei es aber völlig irrelevant ist, ob ein Mensch an Gott glaubt oder nicht. 99 % der Alkoholiker und Alkoholikerinnen vertragen schlicht und einfach keinen Alkohol. An dieser Tatsache ändert auch der Glaube an Gott nichts. Verfallen Trinker dem Irrglauben, irgendwann mal mit dem Stoff umgehen zu können, werden sie unweigerlich früher oder später rückfällig. Basta.

Nach dem Mittagessen begleitete Benno mich ins Lighthouse. Meine an Krebs leidende Malerfreundin Hildegard steht auf der Schwelle zum Jenseits. Er hat ein Gebet ohne Firlefanz für sie gesprochen, dabei die Hand auf ihre Stirn gelegt. Ein emotional sehr bewegender Moment für Hildegard, die mit dem Diesseits noch nicht abgeschlossen hat.

Nach dem Besuch war Benno nach einer Zigarette zu Mute. Wir setzten uns auf eine Treppe und smokten zusammen eine. Bennos Armbanduhr war stehen geblieben. Wir fuhren mit dem Tram in die Stadt hinunter, wo der Uhr bei Manor an der Bahnhofstraße eine neue Batterie eingesetzt wurde. Zwanzig Minuten Wartezeit. Wir verließen das Geschäft, gesellten uns beim Bahnhof zu einer Gruppe Alkis, die mit ihren Hunden unter den Bäumen beim Trinkbrunnen auf den Bänken am Wasser weilten. Ein barfüßiges Paar philosophierte eine Weile mit Benno. Niemand aus der zusammengewürfelten Gruppe hatte das Bedürfnis, an seiner Lebensart ausgerechnet heute etwas zu ändern.
Nachdem wir die Uhr abgeholt hatten, trafen wir im Park hinter der Kaserne auf eine weitere Gruppe Randständiger. Eine Frau und drei Männer jassten in der Pergola, ein paar Männer standen abseits beisammen. Interessiert an Bennos brauner Kutte, ließen sie sich auf ein kurzes Gespräch ein. Niemand begleitete uns zurück ins Chrischtehüsli. Während ich in der Stube blieb, machten Bruder Benno und Maria-Theresa sich zu einem Gassenrundgang auf.

Der lange Pingu benahm sich heute extrem schlecht … Dafür war der »Autist« Luis zwischen seinen Schlafattacken sehr gesprächig. Ein Mann half einer jungen Frau, die auf Turkey war, mit Methadon aus. Eine Frau schlief den ganzen Nachmittag auf einem Stuhl, den Kopf auf der Tischplatte. 
Der »Rollbrettler« wollte mich ins Fixerstübli mitnehmen. Nicht begeistert über diese Idee war Benno, der befürchtet, ich könnte bei allzu nahem Kontakt in die Mühle geraten …

Bobby, unser persischer Abwaschkönig, sang auch heute bei der Arbeit, was viele vom Team zum Schmunzeln brachte.
Da heute das Knabenschießen stattfand, gab es kein Abendessen. Dafür lud Benno die wenigen Gäste zu einer Bratwurst auf dem Festgelände ein. Aus unerfindlichen Gründen verwechselte er Knabenschießen (im Albisgüetli) und Sechseläuten (am Bellevue) …
Das Albisgüetli war ihm dann doch zu weit weg und so gingen wir zu dreizehnt die paar Schritte zum Türken vorn an der Ecke und setzten uns ins Gartenrestaurant. Betreuerinnen, Betreuer und Junkies.
Eine kleine Familie mit Ecken und Kanten.
Roswitha


(Nachtrag von Br.Benno: So einfach hab ich das sicher nicht gesagt und ich weiß, wie gefährlich es ist, wenn man mal getrunken hat und wie heikel es ist, mit einer Suchtgeschichte einen gesunden Glauben zu finden. Aber ich glaube trotzdem, dass es möglich ist, dass ein Mensch total ausgesöhnt werden kann mit sich, mit seiner Geschichte, den Menschen und mit Gott. Solche Menschen sind zwar so selten wie die wirklich Heiligen, aber es gibt sie und sie gehen dann sehr verantwortungsvoll mit der „neuen“ Freiheit um. Mit einer Suchtkrankheit umzugehen, indem man „trocken“ ist, ist schon sehr viel, denn es braucht unglaubliche Selbstdisziplin. Der Schatten dieser Selbstdisziplin kann für gewisse Lebensbereiche eine Innere Härte sein, die wohl Notwendig ist, um trocken zu bleiben, aber der Weg zur totalen Versöhnung geht eben noch weiter und ist sehr, sehr schmerzhaft und nur wenige finden und gehen ihn.)


Reportage 5: Montag, 19. September

Der brutale Temperatursturz trieb viele sozusagen Heimatlose schon früh morgens in den Schutz der guten Stube. Nach ausgiebigem Frühstück legten einige sich schlafen. Normalerweise steht ein Stapel Wolldecken zur Verfügung, doch heute war keine einzige zu finden.

Bruder Benno hat sich für eine Weile ins Kloster zurückgezogen. Vittorio leitete die Andacht, grämte sich über die andauernden Störungen. Eine schwarze Mademoiselle setzte sich neben mich. Ihr würziger Atem schmeichelte meinem Riechorgan gar nicht.
Der »Futterwagen« brachte heute keine großartigen Restposten von Migros und Denner  für das Mittagessen. Salat und etwas Gemüse. Um 12 Uhr spurteten Gottfried und ich zum Denner, kauften Risotto-Päckchen, Butter und Brot: zu wenig, konstatierte Maria-Theresa und wir machten uns erneut auf den Weg. Letztendlich wurden die zwanzig Gäste und die Chrischtehüsli-Crew dann doch noch satt.
»Twiggy« kam barfuß daher. Die zu langen Trainerhosenbeine boten wenigstens den Fersen ein wenig Schutz. Nach dem Essen füllte das Schlafstübli sich zum Bersten. Keiner schrie mehr nach Wolldecken, die aneinander gereihten Leiber wärmten sich gegenseitig.
Luis zieht es immer vor, auf einem Stuhl (oder auch stehend) zu schlafen. In der überfüllten Schlafkammer war es ihm zu eng und so blieb er bei uns in der nicht weniger vollen Stube. Er ist der reinste Yogakünstler, was seine Schlafstellungen betrifft. Heute ist er grauenhaft dran. Sein bleiches Gesicht schwebt irgendwie über dem schwankenden Oberkörper, der im Zeitlupentempo vornüberkippt. Sein Kopf findet auf einem untergeschobenen Schemel Halt, auf dessen Sitzfläche sein Speichel fließt. – Nebst dem verschriebenen Methadon schluckt er irgendwelchen Dreck und ich frage mich, wie lange sein gepeinigter Körper die Torturen noch aushalten wird. – Sein Appetit ist ihm trotz allem nicht verloren gegangen. Während er seine Mahlzeiten einnimmt, muss er alle paar Sekunden geweckt werden, sonst bettet er seinen Kopf in den Teller… Der sanfte Luis ist heute genervt, alles geht für ihn zu schnell.

Gestern ist auf der Langstraße ein Drögeler gestorben. Kollegen, die ihn noch atmend fanden, sorgten für Hilfe, doch es war zu spät.

Maria-Theresa ging am Nachmittag noch etwas einkaufen und Helferin Anna und ich machten Gemüsesuppe; sie rüstete, ich schnetzelte.
Um halb sechs wurden die Langschläfer geweckt. Ihr Gemotze, die Helfer könnten doch auch in der Stube beten, wurde ignoriert. Während der Gebetsstunde kümmerte ich mich um die vielen Gäste und die Vorbereitungen für das Nachtessen.
Eine Frau bat mich um Socken. Leider haben wir keine Socken gegen Frostbeulen auf Vorrat zum Verschenken.
Zu der feinen Suppe mit frischem Gemüse gab es Wienerli und Brot. Insgesamt wurden dreißig hungrige Mägen befriedigt.
Beim Abwasch sang Bobby seine herzerweichenden Melodien. Stolz verkündete er, dass er seit einer Woche nicht mehr raucht.

Ich bemühe mich um einen neutral-positiven Blick für alle, die kommen. Es ist nicht leicht. Die Gassenarbeit fordert viel Energie. Trotzdem werde ich nächsten Montag wieder im Chrischtehüsli sein.
Roswitha


Reportage 6: Montag, 26. September 05

 Was mich bei den Christen immer wieder erstaunt und verwundert, ist, dass sie so von Ereignissen sprechen, welche 2005 Jahre zurückliegen, als wären sie persönlich dabei gewesen …
Im Hier und Jetzt hatten wir erneut einen Tag voller Hektik mit kurzen Erholungsphasen.

Eliane kam früh morgens weinend angekrochen. Ein so genannter »Beschützer« besprühte sie mit Pfefferspray, weil sie ihm kein »Schutzgeld« geben wollte. Sr. Maria-Theresia rieb ihre von grässlichem Juckreiz befallenen Arme und Beine mit einer lindernden Kreme ein. (Später bezahlte Eliane dem Kerl den geforderten Betrag, weil er sie sonst zusammengeschlagen hätte.)

Der 20-jährige »Rollbrettler« Roni ist wild entschlossen, sein Schicksal in geordnete Bahnen zu lenken. Ich hoffe, er macht Nägel mit Köpfen.
Morgen geht der nette kleine schwarz gelockte Gipser zum Entzug. Nicht zum ersten Mal. Die längste saubere Phase dauerte sieben Jahre …

Trudi ist aus den Ferien zurück und kocht ein feines Mittagessen.

Heute wurde mir wieder einmal bewusst, wie naiv ich bin. Luis wurde ein paar Schritte vom Chrischtehüsli entfernt von der Polizei aufgegriffen. Ich dachte, ich könne ihm helfen, kam gar nicht auf die Idee, dass auch er ein Dealer und nicht nur Konsument ist. Die beiden älteren Polizisten zeigten sich eher amüsiert als verärgert über meine für sie offensichtliche Ahnungslosigkeit, doch der jüngere Kollege verhielt sich mir gegenüber aggressiv, trat provozierend nahe an mich heran. Seine dunklen Augen funkelten und seine Nasenspitze berührte fast meine. Irritiert wich ich zurück, versicherte ihm, dass ich nicht im Sinn habe, Luis gewaltsam der Mühle der Justiz zu entreißen …
In Luis’ hellgelben Gesichtszügen spiegelte sich Teilnahmslosigkeit, doch in den matten Augen schimmerte zweifellos Panik, als der Wagen vorfuhr, in dem er wenig später abtransportiert wurde.

Ein schmales, hoch aufgeschossenes Girl, vielleicht etwa 30-jährig, Mini-Jupe, knappes Top, barfuß, mittelblondes Haar, einen Zentimeter kurz, stürmt in die gute Stube. Ihr verstörtes Lachen entblößt das rosarote Zahnfleisch ohne Beißerchen. Unkontrollierte, hektische Bewegungen. Sie verzichtet auf Besteck, grabscht den Salat mit den Fingern aus der Schale und stopft ihn in den Schlund. Je mehr Aufmerksamkeit sie bekommt, desto grässlicher artet ihre Futteraufnahme aus. Vermutlich wohnt sie in der PUK (Psychiatrische Universitätsklinik) und hat sich eine Auszeit genommen.

Die hochdeutsch sprechende Angela ist eine sehr nette Frau, doch leider ist das Bedürfnis nach Heroin stärker, als der Wunsch, von dem Zeug loszukommen. Schade um sie.
Marjana – eine kluge Frau, die ihr breit gefächertes Wissen leider nicht positiv umzusetzen weiß. Zwar sammelte sie in ihrer Drogenkarriere viele Erkenntnisse, die jedoch von demoralisierenden Wahrheiten zugeschüttet wurden.
Daniela »2« wurde von einem sich auf einem Horrortrip befindenden Mann mit einem Messer bedroht, entrann der Gefahr nach Stunden der Angst und hat nichts daraus gelernt.

Tief schürfender Gedankenaustausch mit dem freiwilligen Helfer Korbinian. Er ist ein junger Mann, der sich nicht mit gegebenen Richtlinien abfindet, sondern alles hinterfragt und seine eigenen Schlüsse zieht.
Sr. Cornelia, eine liebenswerte Person in schwarzer Tracht mit weißem Kragen, ist trotz chronischen Rückenschmerzen immer fröhlich und hilfsbereit.

Unser singender »Abwaschkönig« Bobi hat sich offensichtlich letzte Woche so schlecht benommen, dass er Chrischtehüsli-Verbot bekommen hat. Zumindest für eine Weile, denke ich. Wenn er Pech hat, wird er abgeschoben, denn er hat keine Aufenthaltsgenehmigung.

Anna und ich sind schon ein gut eingespieltes Kochteam. Die Vorbereitungen für das Abendessen dauerten den ganzen Nachmittag :-)
Unter ihrer Anleitung haben wir Milchreis mit Birnenmus, gerösteten Brotbrösmeli, Zimt und Zucker zum Draufstreuen und Fruchtsalat gemacht.

Ich bin gespannt, was nächsten Montag alles passieren wird.
Eure Roswitha 


Reportage 7: Montag, 3. Oktober 2005

 Heute regnete es Bruder Benno in sein Herz. Er hat es nicht leicht – mit mir.
Ich suche nach der Wahrheit, verabscheue Unlogik.

In den sechs vorhergehenden Montagen mit je 9 3/4 Arbeitsstunden bekam ich Einblick in das Wirken der Helfer und Helferinnen.
Und in die verworrenen Gedankengänge der Süchtigen.
Die meisten leiden unter Hepatitis, deren Gefährlichkeit nicht ernst genug genommen wird. Zudem ist jede/r Betroffene, mit einer gravierenden Persönlichkeitsstörung behaftet, welche ihr/ihm den Ausstieg aus dem mörderischen Kreislauf der Sucht massiv erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht. Das ist die Achillesferse der sich in der Mühle der Sucht befindlichen Menschen.
Es ist schwer, die auf die Sucht fokussierten Gedanken in eine andere Bahn zu lenken. Oft fehlt dazu eine aussichtsreiche Perspektive, die zu verwirklichen lohnenswert wäre. Das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, ist mit viel Mühsal verbunden und deshalb wählen die vom Übel geschwächten Suchenden den Weg des geringsten Widerstandes. 
Und es fehlt das Selbstvertrauen. Auch eine gewisse Scheu, Selbstverantwortung zu tragen, hindert die Süchtigen, den entscheidenden Schritt zu tun. Sie suhlen sich deshalb lieber in Selbstmitleid und schieben die Schuld ihres »Versagens« auf die ihnen am nächsten stehenden Mitmenschen oder auf die von ihnen verhasste Gesellschaft allgemein.

Nicht versäumen zu erwähnen möchte ich, dass Luis nach 24 Stunden Haft wieder frei gelassen wurde. Es hat sich für ihn nichts geändert.
Ronis Euphorie hielt nicht lange vor. Er hat keine Nägel mit Köpfen gemacht.
Das Chrischtehüsli bleibt für ihn und seinesgleichen offen.

Eigentlich wollte ich nur reinschnuppern, Recherchen für einen neuen Krimi machen und Ideen sammeln. Es ist mehr daraus geworden. Ich werde vorerst weiterhin einen Tag pro Woche in der guten Stube an der Zwinglistraße verbringen. Seite an Seite mit den Helferinnen und Helfern und den Süchtigen. Und ich werde mit ihnen die mit Hoffnungsschimmern und Enttäuschungen geschwängerte Atmosphäre atmen, auf das Erscheinen eines Regenbogens warten.

Ich bin alles andere als perfekt, nur ein Mensch unter Menschen.
Eure Roswitha


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